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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ungarn

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Ungarn (Geschichte 1849-1865).

gei hartnäckig bei Komorn stehen, lieferte daselbst noch 2. Juli eine unentschiedene Schlacht und verließ es erst 12. Juli, nachdem 9. Juli die Regierung zum zweitenmal Pest hatte verlassen müssen und nach Szegedin geflohen war. Am 14. Juli zogen die Österreicher wieder in Pest ein. Die Siege Vetters über Jellachich bei Hegyes (14. Juli) und Görgeis über die Russen bei Waitzen (17. Juli) konnten gegen die Übermacht nichts mehr nützen. Haynau rückte gegen Szegedin vor, welches die Ungarn aufgeben mußten, und schlug Dembinski 5. Aug. bei Szöreg, Bem 9. Aug. bei Temesvár. Kossuth legte darauf 11. Aug. in Arad die Leitung der Regierung nieder und übertrug Görgei, der inzwischen mit seiner Armee, das linke Theißufer abwärts marschierend, in Arad angelangt war, die Diktatur. An der Möglichkeit fernern Widerstandes verzweifelnd, faßte der neue Diktator, übrigens mit Vorwissen und Zustimmung der Regierung, den Beschluß, sich nicht den verhaßten Österreichern, sondern den Russen zu ergeben, und streckte 13. Aug. mit 22,000 Mann bei Világos vor General Rüdiger bedingungslos die Waffen. Ihm folgten 16. Aug. Oberst Kazinczy mit 10,000 Mann, 17. Aug. Damjanich in Arad u. a.; nur Komorn wurde von Klapka hartnäckig verteidigt, bis es 2. Okt. eine ehrenvolle Kapitulation erlangte. "U. liegt zu den Füßen Ew. Majestät!" schrieb Paskewitsch an den Zaren.

Daß die Ungarn die Unterwerfung unter den hochmütigen Zaren der direkten Verständigung mit der österreichischen Regierung, welcher sie übrigens von Rußland auf Gnade oder Ungnade überliefert wurden, vorzogen, war für die Österreicher beleidigend und reizte ihren Zorn aufs äußerste. Von den gefangenen Häuptern der Insurrektion (mehreren, wie Kossuth u. a., war die Flucht nach der Türkei geglückt) wurde nur Görgei auf russische Intervention verschont; 13 Generale und Obersten wurden auf Haynaus Befehl 6. Okt. in Arad teils erschossen, teils gehenkt, Ludwig Batthyányi und andre vornehme politische Führer in Pest zum Tode durch den Strang verurteilt. Den Hinrichtungen folgten zahllose Verurteilungen zu mehrjähriger Kerkerhaft. Erst im Juli wurde Haynau, der das Standrecht mit blutiger Strenge handhabte, abberufen. Nachdem der Kaiser im Herbst 1851 den Erzherzog Albrecht zum Gouverneur von U. ernannt und 1852 selbst das Land besucht hatte, wurde den kriegsgerichtlichen Prozessen ein Ende gemacht und eine teilweise Amnestie erlassen. Die ungarische Verfassung wurde für verwirkt erklärt und U. zu einem bloßen Kronland des neuen österreichischen Gesamtstaats umgewandelt, die Nebenländer Siebenbürgen, Kroatien und Slawonien und das Temeser Banat von der ungarischen Krone getrennt und zu selbständigen Kronländern erhoben. Über U. ergoß sich ein Strom meist slawischer Beamten, welche das Land in den zentralisierten Staat einfügen und die Reaktion gegen die liberalen Neuerungen durchführen sollten. 1853 wurden österreichische Justiz und Verwaltung oktroyiert. Für die Regelung des Verhältnisses zwischen den Grundbesitzern und den frühern Grundholden, des sogen. Urbarialverbandes, wurden zweckmäßige Einrichtungen getroffen; für die materielle Entwickelung des Landes zeigte sich die Regierung bemüht; auch wurden nach einem längern Besuch des Kaisers 1857 die konfiszierten Güter der kriegsrechtlich Verurteilten zurückgegeben und die ungarische Sprache in Schule und Gericht zugelassen. Die Nation, durch die fehlgeschlagene Insurrektion niedergedrückt und erschöpft, setzte der Regierung ihren oft erprobten passiven Widerstand entgegen und beharrte auf dem Verlangen nach Wiederherstellung der Verfassung. Selbst segensreiche kaiserliche Verordnungen, wie das Protestantenpatent vom 1. Sept. 1859, welches für die evangelische Kirche in U. eine auf dem Gemeindeprinzip beruhende vortreffliche Verfassung einführte, wurden von den Ungarn als verfassungswidrig zurückgewiesen.

Wiederherstellung des ungarischen Staats.

Die Notlage der Monarchie nach dem italienischen Krieg von 1859 zwang die Regierung zur Nachgiebigkeit: nachdem Erzherzog Albrecht durch den Ungarn Benedek ersetzt worden, wurde durch das Oktoberdiplom vom 20. Okt. 1866 die alte Verfassung Ungarns vor 1848 im wesentlichen wiederhergestellt und der Landtag zur Beratung eines neuen Wahlgesetzes berufen, welches eine Vertretung aller Stände ermöglichen sollte. Die ungarische Hofkanzlei, die Komitatsverwaltung, die ungarische Justiz mit der Curia regia und dem Judex curiae in Pest, das Amt eines Tavernicus, die ungarische Sprache als Amtssprache wurden wiederhergestellt. Die fremden Beamten mußten das Feld räumen, die deutschen Gesetze wurden für aufgehoben erklärt. Alle diese Zugeständnisse wurden von den Ungarn aber nur als Abschlagszahlung angenommen, als Preis der Versöhnung die völlige Wiederherstellung des alten Rechtszustandes mit Einschluß der Gesetze von 1848 und eine Amnestie gefordert. Im Februar 1861 berief die Regierung gleichzeitig mit der Verkündigung einer neuen Verfassung für den Gesamtstaat den Landtag nach dem Wahlgesetz von 1848 ein; derselbe wurde 6. April eröffnet. Das Unterhaus, in welchem der Schwerpunkt der Verhandlungen lag, spaltete sich in zwei Parteien, die Adreßpartei unter Deák, welche den Standpunkt der Nation der Februarverfassung gegenüber in einer Adresse an den Monarchen darlegen und damit den Weg der Verhandlungen betreten wollte, und die Beschlußpartei unter Koloman Tisza, welche die Rechtsgültigkeit der 48er Gesetze durch einfachen Beschluß erklären wollte. Nach langen Debatten siegte 5. Juni die Adreßpartei mit 155 gegen 152 Stimmen, aber ihre Adresse, welche Personalunion mit Österreich verlangte, wurde 8. Juli vom Kaiser mit der Forderung einer vorherigen Revision der 48er Gesetze beantwortet. Als der Landtag darauf in einer zweiten Adresse die Pragmatische Sanktion und die Gesetze von 1848 als die allein annehmbare Grundlage bezeichnete, die Krönung Franz Josephs von der Wiedervereinigung der Nebenländer mit U. abhängig machte, die Beschickung des Wiener Reichsrats ablehnte und gegen jeden Beschluß desselben protestierte, brach die Wiener Regierung alle weitern Verhandlungen ab; "Österreich kann warten", erklärte Schmerling in der Hoffnung, daß U. sich schließlich der Februarverfassung fügen werde. Bis dahin wurde, nachdem der Landtag 21. Aug. 1861 aufgelöst worden, wieder absolutistisch regiert; gleichzeitig suchte man die öffentliche Meinung durch eine Amnestie der politischen Sträflinge und Flüchtlinge sowie durch eine Spende von 20 Mill. zur Linderung einer entsetzlichen Hungersnot (1863) zu gewinnen. Aber schon 1865 wurde in Wien das Regierungssystem wieder geändert: von dem liberalen Zentralismus Schmerlings ging man zum altkonservativen Föderalismus Belcredis über. Nach einem neuen Besuch des Kaisers in Pest wurden die Führer der altkonservativen Partei in U., Graf Mailáth und Baron Sennyey, an die Spitze der ungarischen Regierung gestellt und 14. Dez. 1865 der Landtag von neuem