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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Vereinigte Staaten von N.-A.

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Vereinigte Staaten von N.-A. (geistige Kultur).

wahrhaft ritterlich, aber auch aufbrausend, kleinlich-empfindlich und zur Selbsthilfe geneigt. Der gesellschaftliche Ton ist im S. freier und ansprechender als im N. Die Deutschen bilden in geistiger und materieller Beziehung einen wichtigen Faktor der Bevölkerung, und da sie unablässig frischen Zuzug aus der Heimat erhalten und ihre Muttersprache pflegen, so werden sie sich wohl noch auf lange Zeit ihre Eigentümlichkeiten bewahren. Sie sitzen am dichtesten in Pennsylvanien (wo sie bei Gründung der Union die Mehrheit bildeten), in New York und in den westlichen Staaten (Illinois, Ohio, Wisconsin und Missouri), leben meist als Ackerbauer auf dem platten Land, sind aber auch zahlreich in allen größern Städten. Ein schlimmes Element der Bevölkerung sind die katholischen Iren, die meist blindlings ihren Geistlichen oder Parteiführern folgen. Sie nehmen meist untergeordnete Stellen ein, und bei einiger Bildung werfen sie sich auf Politik und Ämterjagd. Die Engländer und Schotten sowie die Skandinavier bilden hingegen sehr achtbare Teile der Bevölkerung. Diese Verteilung der Rassen hat den verschiedenen Teilen der Union einen eigentümlichen Charakter aufgedrückt. Im NO. liegen die Neuengland- und Yankeestaaten, mit einer aus den bürgerlichen Kreisen Englands abstammenden Bevölkerung, mit hoch entwickelter Fabrikindustrie und den größten Städten. In den mittlern und nordwestlichen Staaten ist die Bevölkerung mehr gemischt und enthält namentlich deutsche Elemente. Dort spielt noch immer die Landwirtschaft die Hauptrolle. Der ferne Westen endlich ist das Gebiet der Edelmetalle und der Abenteurer jeder Art, wenn auch die Zeit, wo Fallensteller (trappers), gefolgt von squatters, welche die ersten Äcker urbar machten, und von nach Gold dürstenden prospectors, diese Gegenden durchzogen, fast verschwunden ist. Endlich hat der Süden durch die lange anhaltende Sklaverei seinen Charakter erhalten, und seine weißen Bewohner stammen wenigstens teilweise von adligen Geschlechtern Altenglands und französischen Einwanderern ab. Diese Gruppierung erklärt zugleich die Vorliebe des industriellen Nordostens für das Schutzzollsystem, während die Acker- und Plantagenbau treibenden West- und Südländer mehr dem Freihandel zuneigen.

Geistige Kultur.

Für die geistige Kultur und namentlich für das Schulwesen ist in den Vereinigten Staaten viel geschehen, vom Staat sowohl als von Privaten; doch bleibt noch immer viel zu thun übrig, und mit unserm deutschen Schulwesen hält es einen Vergleich jedenfalls nicht aus. Die Bundesregierung überläßt die Leitung des öffentlichen Unterrichts den Einzelstaaten, hat aber den 36. Teil aller Staatsländereien (für jede Township eine Sektion) für Schulzwecke reserviert. Außerdem hat die Mehrzahl der Staaten Schulfonds gegründet, und für Schulzwecke werden sowohl Steuern als auch Schulgelder erhoben. Schulzwang besteht nur in einigen Staaten, trotzdem waren die Volksschulen 1886/87 von 11,805,660 Kindern besucht (durchschnittlich anwesend waren aber nur 7,571,416!, und die Schulen bleiben sechs Monate des Jahrs geschlossen). Der Unterhalt dieser Schulen kostete 1886/87: 115 Mill. Dollar. In ihnen wird in der Regel nur Lesen, Schreiben, Rechnen und etwas Geographie gelehrt; aber was der Amerikaner in der Schule nicht lernt, das eignet er sich im praktischen Leben an. Für Neger bestehen besondere Schulen. Der Unterricht wird vielfach ganz unerfahrenen Kräften anvertraut, was man schon daraus ersieht, daß 1880 der durchschnittliche Jahresgehalt eines Lehrers nur 236 Doll. betrug! Am besten waren die Lehrer bezahlt in Nevada (672 Doll.) und Massachusetts (532 Doll.), am schlechtesten in Alabama (84 Doll.). An Privatschulen (Academies, Seminaries) für wohlhabendere Leute zählte man 1887: 1521 mit 8533 Lehrern und 157,826 Schülern. Von der über zehn Jahre alten weißen Bevölkerung waren 1880: 9,4 Proz. des Schreibens unkundig (12 Proz. der Ausländer, 8,7 Proz. der gebornen Amerikaner), und von den stimmberechtigten Schwarzen konnten gar 70 Proz. nicht schreiben.

An der Spitze der Bildungsanstalten stehen die sogen. Universities oder Colleges, von denen eine Anzahl auf Staatskosten unterhalten werden, die Mehrzahl aber Stiftungen oder von religiösen Genossenschaften unterhaltene Anstalten sind. Die bedeutendsten unter ihnen sind nach dem Muster der englischen Universitäten eingerichtet, doch wird das Utilitätsprinzip in ihnen bevorzugt. Die älteste und angesehenste der amerikanischen Universitäten ist die Harvard University bei Cambridge in Massachusetts (1636 gegründet); ihr zunächst im Rang steht Yale College in Connecticut. Die 361 Colleges und Universitäten hatten 1886: 5266 Lehrer und 70,024 Studenten (darunter fast der vierte Teil weiblichen Geschlechts). Ihnen reihen sich zahlreiche Spezialschulen an, in welchen Ärzte, Advokaten, Landwirte, Geistliche und Lehrer herangebildet werden. Wissenschaftliche Vereine bestehen in fast allen größern Städten. In weitern Kreisen bekannt ist namentlich die Smithsonian Institution (s. Smithson). Unter den öffentlichen Bibliotheken, deren es 1885 nach amtlichem Ausweis im ganzen 5338 mit 20,622,076 Bänden gab, sind 47 mit über 50,000 Banden. Die größten sind die Kongreßbibliothek, die der Harvard University und die Boston-Bibliothek. Einen ganz wesentlichen Einfluß auf die Bildung des Volkes übt die Presse aus. Im J. 1880 erschienen 11,314 Zeitungen und Zeitschriften in einer Auflage von 31,779,686 Exemplaren. Von ihnen befaßten sich 8863 mit Politik, 553 mit Religion, 284 mit Handel; 10,515 erschienen in englischer Sprache, 641 in deutscher, 49 in skandinavischer, 41 in französischer.

Die Verfassung der Union hebt in ihrem ersten Zusatzartikel ausdrücklich hervor, daß sie keine Staatsreligion oder Staatskirche kenne oder anerkenne. Auch eine Eidesformel, in der die Gottheit zum Zeugen angerufen wird, kennt das Gesetz nicht, und in den öffentlichen Schulen bildet »Religion« keinen Unterrichtsgegenstand. In dem Sektenwesen schließen sich die Vereinigten Staaten eng an England an (vgl. Anglikanische Kirche, S. 577 f.); aber auch eigentümliche Sekten, wie Shakers und Mormonen (s. d.), sind hier entstanden. Überhaupt gab es 1880: 86,132 protestantische und 5975 kath. Kirchen mit 77,230 Geistlichen, aber 1887 soll es 132,435 Kirchen gegeben haben mit 91,911 Geistlichen und 16,018,977 erwachsenen Gemeindemitgliedern. Unter den in 45 Sekten gespaltenen Protestanten waren die Methodisten (4,532,658 Mitglieder) und die Baptisten (3,727,028) die zahlreichsten. Einflußreich, aber mehr durch Intelligenz als durch ihre Zahl, sind die Unitarier (s. d.). Die Lutheraner (meist Deutsche und deren Nachkommen) zählen kaum 1 Mill. Anhänger. Die Katholiken (unter 11 Erzbischöfen) scheinen trotz des stetigen Zuzugs aus Irland nicht an Boden zu gewinnen, behaupten aber, einen Anhang von 7 Mill. Köpfen zu haben. Die Zahl der Juden ist gering. Die Mehrzahl der Indianer ist noch heidnisch, und mit den Chinesen sind auch Buddhisten ins Land gekommen. Diese eigentüm-^[folgende Seite]