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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Viehzucht

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Viehzucht (zweckmäßigste Körperform, Points).

Verdauung und Respiration sind energischer, die Blutzirkulation langsamer, die Sekretionen konzentrierter; es ist kostspieliger zu ernähren; das weibliche Tier ist breiter im Becken, feiner, abgerundeter in den Formen; seine in Beziehung zu den Geschlechtsfunktionen stehenden Absonderungen sind reichlicher. In dem männlichen Tier ist die Individualität mehr ausgeprägt als in dem weiblichen; deshalb wird es für wertvoller gehalten. Für die Zucht kommt noch hinzu, daß ein männliches Tier für viele weibliche Tiere benutzt werden kann. Die Alters- und Geschlechtsdifferenzen als selbstverständlich vorausgesetzt, bleibt bei der Auswahl von Tieren zur Zucht in erster Linie die für den bestimmten Gebrauch zweckmäßigste Form des Körpers und namentlich gewisser Teile zu berücksichtigen, welche die größte Leistungsfähigkeit nach der gewünschten Richtung hin garantiert, so: beim Reitpferd Tiefe der Brust, Länge des Brustbeins, kurzer Rücken, kräftige Nierenpartie; bei der Milchkuh gut entwickelte Milchdrüsen und feine Haut; bei dem Masttier breite Schuft, großer Querdurchmesser durch die Herzgegend, Festigkeit des Fleisches. Der Züchter bezeichnet diese Hauptpunkte des Körpers, welche bei der Beurteilung der Zweckmäßigkeit des Körperbaues für bestimmte Zwecke vornehmlich beachtenswert erscheinen, als »Points«. Welche Points für die verschiedenen Gebrauchszwecke besonders wichtig sind, lehrt die spezielle Zucht der einzelnen Tiere. Außer dem Körperbau kommen bei der Auswahl von Tieren einige generelle Eigenschaften in Betracht, nämlich: Feinheit, Adel, Frühreife und gute Futterverwertung. Fein nennt man ein Tier mit dünnen, leichten Knochen, loser, dünner, weiter Haut, weicher, spärlicher Behaarung, kleinem und leichtem Kopf und ebensolchen Gliedern. Im Gegensatz hierzu bezeichnet man ein Tier als grob, welches umfangreiche, dicke Knochen, eine dicke, feste Haut, grobe, straffe, reichliche Behaarung, einen plumpen Kopf und plumpe, große Glieder hat. Weibliche Tiere sind an sich immer etwas feiner als männliche. Die Feinheit ist eine vorteilhafte Eigenschaft, denn feinere Tiere sind leichter zu ernähren und verwerten das Futter besser als grobe; damit soll aber nicht gesagt sein, daß ein Tier unter allen Umständen um so besser sei, je feiner es ist. Die Gebrauchszwecke bedingen hier Verschiedenheiten, inwieweit dieser Konstitutionszustand wünschenswert erscheint. Milch- und Fleischvieh muß fein sein; aber ein reiner Zugochse darf nicht fein sein, und ein männliches Zuchttier darf die Eigenschaft der Feinheit nicht in dem Grad an sich tragen, daß die Männlichkeit darunter leidet. Je nachdem es Milch-, Fleisch- oder Wolltiere einerseits oder Arbeitstiere anderseits produzieren soll, darf der Grad der Feinheit bei dem männlichen Zuchttier mehr oder weniger stark hervortreten. Indessen kann die Feinheit eines Tiers auch zu weit gehen, bis zur Überbildung, wie bei veredelten Schafen und Pferden oft beobachtet wird. Bei vielen überbildeten Tieren, auch bei dem überfeinen Merinoschaf, sind Brust und Becken eng und schmal, die Rippen flach, der Rücken scharf. Man kann zwar sagen, daß die Eigenschaft der Feinheit Rasseneigentümlichkeit ist, aber doch nur mit einer gewissen Einschränkung. Denn wenn beispielsweise die Kühe der holländischen Rasse im allgemeinen feiner sind als die der oldenburgischen, so kommt es oft genug vor, daß eine holländische Kuh einmal gröber ist als eine oldenburgische. Der Begriff Adel wird verschieden gefaßt. Einmal werden Tiere für edel angesehen, welche in ihren Eigenschaften den Höhepunkt dessen repräsentieren, was wir zur Zeit nach dieser Richtung hin erreichen können, nach einer andern Auffassung solche, welche in voller Reinheit von gewissen Stammbäumen entsprossen sind, wie z. B. das »Stud-book« es für die englischen Vollblutpferde, die publizierten Register für die Shorthornrinder nachweisen. In diesem letztern Sinn würde eine gewisse Analogie mit dem Adel der menschlichen Gesellschaft vorliegen, und unter den edlen Tieren würden auch körperlich schlechte Subjekte vorkommen können. Nach dem gewöhnlichen Gebrauch werden gewisse Rassen immer als edle bezeichnet, so bei uns: das orientalische Pferd, das Merinoschaf, das moderne englische Schwein. Von besonderer Wichtigkeit für gewisse Zwecke ist die Eigenschaft der Frühreife. Ein Tier wird frühreif, wenn es, geboren und genährt von einer Mutter, welche während der Trächtigkeit und des Säugens auf das reichlichste gefüttert wurde und reichlich Milch produzierte, sodann, selbständig geworden, dauernd in seiner Nahrung alle Stoffe vorfindet, welche zu seiner Entwickelung erforderlich sind und auch in Quantität und Qualität vollauf genügen, welches ferner nicht durch starke Bewegung, ungünstige Temperatur- und sonstige Einflüsse übermäßig Stoff verliert. Im Gegensatz hierzu wird ein Tier spätreif, dessen Mutter während der Trächtigkeit und des Säugens unzureichend ernährt wurde, so daß sie die zur Entwickelung der Frucht und zur Ernährung des Jungen nötigen Stoffe nicht in zureichendem Maß liefern konnte, dessen weitere Entwickelung auch nach dem Absetzen durch mangelhaftes Futter und durch infolge starker Bewegung und bedeutender Temperatureinflüsse gesteigerten Stoffwechsel gehemmt wurde. Mit der Frühreife ist eine gewisse Form des Körpers verbunden. Das frühreife Tier ist relativ groß, im allgemeinen fein, hat einen weiten, großen Rumpf (breite Brust, Rücken und Becken, gewölbte Rippen) bei kleinem Kopf und dergleichen Beinen, oder anders gesagt, die durch Fleisch und Fett vorzugsweise nutzbaren Körperteile sind stark, die wenig wertvollen Partien schwach entwickelt. Diese Körperform bezeichnet man als die Parallelogrammform, d. h. der Rumpf des Tiers läßt sich nach verschiedenen Richtungen, besonders aber im Profil, von einem Parallelogramm derart umschreiben, daß die Linien des letztern die Umrisse der Gestalt des Tiers in vielen Punkten berühren, oder daß das Parallelogramm von den Umrissen des Rumpfes möglichst ausgefüllt wird. Wenn man bei einem Shorthornrind (Fig. 1, S. 193) eine gerade Linie von dem Schwanzansatz bis zur Schuft zieht, an die Endpunkte dieser Linie rechte Winkel ansetzt, deren Schenkel nach vorn den hervorragendsten Teil der Brust, nach hinten den hervorragendsten Teil der Keulen berühren, und dann parallel mit der obern Linie eine andre zieht, welche den nach dem Boden zu hervorragendsten Punkt des Rumpfes berührt, dann erhält man ein Parallelogramm, das von dem Rumpf ziemlich vollständig ausgefüllt wird. Dasselbe ist der Fall bei einem Southdownschaf (Fig. 2) und bei einem englischen Schwein (Fig. 3), bei denen das Parallelogramm in andern Richtungen gezogen ist. Am vollständigsten wird die Parallelogrammform immer bei einem gut ausgemästeten, frühreifen Tier entwickelt sein. Bei den Wiederkäuern, namentlich dem Schaf, steht mit der Frühreife noch eine gewisse Beschaffenheit des Magens im Zusammenhang. Der Pansen, welcher dazu bestimmt ist, große Futtermassen mit geringem Nährstoffgehalt aufzunehmen und zu verarbeiten, bleibt klein, während