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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Vogelschutz

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Vogelschutz.

Vogelschutz, die Summe der Maßregeln, welche getroffen worden sind, um übermäßiger Verfolgung nützlicher Vögel vorzubeugen. Die Vögel haben nicht allein hohen ästhetischen, sondern auch bedeutenden praktischen Wert, insofern sie große Mengen schädlicher Insekten vertilgen. Sie unterliegen einer starken Verfolgung, indem in verschiedenen Gegenden Deutschlands nicht nur zahlreiche Singvögel für den Käfig, sondern auch allerlei kleine Vögel für die Küche gefangen werden. Dazu kommt das Ausrauben der Nester, vor allem aber der Massenmord, dem die Zugvögel auf ihrer Wanderung in Italien überaus zahlreich erliegen (vgl. Vogelfang). Muß man zugeben, daß durch solche im allgemeinen wenig zu rechtfertigende, zum Teil scharf zu verurteilende Handlungen die Vogelwelt geschädigt wird, so bleibt immer noch die Thatsache der durch diese Handlungen bewirkten Abnahme der Vögel durch genaue Ermittelungen festzustellen. In dieser Richtung liegt eine Untersuchung von Liebe vor, nach welcher gegenwärtig im östlichen Thüringen 146 Arten brüten, von denen sich nur etwa 24 Proz. in gleicher Menge erhalten, 15,8 Proz. etwas, 17,3 Proz. bedeutend zugenommen, 25,3 Proz. etwas, 13,7 Proz. bedeutend abgenommen haben. Der Rest besteht aus nur vereinzelt vorkommenden Arten, über welche in dieser Beziehung nichts auch nur mit Wahrscheinlichkeit gesagt werden kann. Im allgemeinen überwiegen die abnehmenden Arten über die zunehmenden, doch nicht sehr bedeutend. Diese Veränderungen in der Vogelwelt sind zum Teil wohl auf die Thätigkeit des Menschen zurückzuführen, viel weniger aber auf die Jagd und den Fang als auf das Fortschreiten der Kultur, welche die natürliche Beschaffenheit der Gegend ändert. Mit den öden Stellen vermindern sich die Steinschmätzer, mit den Feldgebüschen und Dornhecken der Ackerraine die Grasmücken, Rotkehlchen, Goldhähnchen, Hänflinge, Goldammern, mit den hohlen Bäumen in den Forsten die Spechte, Meisen und andre Höhlenbrüter. Die Entsumpfung der Wälder beeinträchtigt die Existenz des Auerhahns, der Waldschnepfe, Stockente etc.; Fabrikanlagen an Bächen stören die Wasseramsel, stärkere Ausbeutung der Lehmgruben die Uferschwalbe etc. Manche Vögel sind gegen diese Eingriffe sehr empfindlich, andre gewöhnen sich an die neuen Verhältnisse und finden, wie der Buchfink in den Obstbaumalleen, die Amsel in Gärten und Anlagen, die Bachstelze am Brückengebälk, der Star an Nistkasten, ihr Genüge. Ja, es gibt einige, welchen die durch die Kultur geschaffenen Veränderungen zusagen, und die sich daher, wie der Baumpieper, die Feldlerche und der Girlitz, vermehrt haben. Namentlich ist auch der Sperling mit dem Menschen und dem kultivierten Boden weiter vorgedrungen und findet sich jetzt in den Walddörfern, wo er noch zu Anfang dieses Jahrhunderts fehlte. Stark dezimierend wirken die umherschweifenden Katzen namentlich auf Grasmücken und Wiesenschnarrer; durch Verfolgung des Menschen haben besonders Nachtigall und Kiebitz abgenommen, viel weniger Habicht, Sperber, Elster und Kernbeißer. Die Verminderung der größern Raubvögel und der Marder wirkt günstig auf andre Vögel, was namentlich, neben der Abschaffung des Schußgeldes, dem Häher zu gute gekommen zu sein scheint, der sich entschieden erheblich vermehrt hat, übrigens selbst ein arger Nestplünderer ist.

Die Verbreitung richtiger Anschauungen und Anordnungen zum V. haben endlich auch auf die Existenz mancher Arten günstig eingewirkt. Dagegen ist auf solche Einwirkungen des Menschen nicht zurückzuführen und bis jetzt überhaupt nicht hinreichend zu erklären die Abnahme, resp. Zunahme gewisser nahe verwandter und in ihrer Lebensweise nicht sehr verschiedener Arten. So haben die beiden grauen Würger abgenommen, der rotköpfige und der Dorndreher zugenommen; ebenso hat sich der Goldammer vermindert und der Grauammer vermehrt. Dieser ist erst seit 1844 in die breitern Thäler des Gebiets vorgedrungen, und neben ihm sind noch sieben andere Arten erst im Lauf dieses Jahrhunderts ständige Brutvögel geworden. Dagegen sind fünf Arten als Brutvögel verschwunden, so daß sich eine Zunahme von 1,4 Proz. ergibt. Teilt man die Vögel in kleine und große, so ergibt sich das interessante Resultat, daß sechs Siebentel der neu eingewanderten, aber keine der verschwundenen Arten zu den erstern gehören, sowie daß unter den Kleinvögeln etwas mehr an Individuenzahl zunehmende Arten sich befinden als abnehmende, während unter den größern bedeutend mehr abnehmende als zunehmende sind. Auch ein Gutachten der Deutschen Allgemeinen Ornithologischen Gesellschaft hat ausgesprochen, daß eine unbedingte Abnahme der nützlichen Vögel, insbesondere der kleinen Singvögel, nicht stattfindet, vielmehr bei mindestens ebenso vielen Arten, wie in Abnahme begriffen sind, eine stetige Zunahme sich nachweisen läßt, und daß eine Abnahme nützlicher Vögel, wo solche sicher erwiesen ist, nicht in vermehrter Nachstellung seitens des Menschen, sondern (wie oben angegeben) in Maßnahmen unsrer Land- und Forstwirtschaft bedingt sei.

Seit Ende der 50er Jahre ist auf Anregung von Lenz und Gloger die Vogelschutzfrage lebhaft erörtert worden. Von der Auffassung ausgehend, daß die scheinbar häufiger gewordenen Ungezieferkalamitäten wesentlich auf Rechnung der Verminderung der Vögel zu schreiben seien, suchte man durch Belehrung der Landbevölkerung und der Jugend, durch Beschaffung künstlicher Brutstellen und Zufluchtsorte, besonders für die in Höhlen brütenden oder nächtigenden Vögel, durch Vogelschutzgesetze und internationale Verträge zu wirken. Man hat auch nach mancher der angestrebten Richtungen unmittelbare Erfolge gehabt, abgesehen aber von der örtlichen Vermehrung des Stares infolge der Anbringung von Nistkasten (vielleicht auf Kosten andrer Arten mit teilweise ähnlichen Lebensbedingungen), sind die Bestrebungen kaum irgendwie in greifbarer Weise fruchtbar geworden. Ein solches Ergebnis befindet sich in Übereinstimmung mit den in Betracht kommenden biologischen Gesetzen. Durch Beseitigung eines einzelnen der vielen natürlichen Vernichtungsfaktoren einer Organismenart wird dieselbe in der Regel und auf die Dauer deshalb nicht wesentlich begünstigt und vermehrt, weil die übrigen vielen, fast sämtlich mehr oder weniger elastischen bezüglichen Faktoren den beseitigten bald größtenteils oder ganz ersetzen. Der Hinzufügung aber einer wesentlichen, bislang fehlenden Existenzbedingung zu den übrigen bereits vorhandenen folgt jede Organismenart (und zwar wegen der geometrischen Vermehrungsfähigkeit aller sehr schnell, meist in einem oder wenigen Jahren) durch ihre Vermehrung bis auf den der Totalsumme der Existenzbedingungen und Vernichtungsfaktoren entsprechenden Punkt. Beide Sätze sind mit vollem Recht auch umzukehren: die Hinzufügung eines wenn auch an sich sehr erheblichen Reduzierungsfaktors wird in der Regel eine bedeutende Verminderung der Art auf die Dauer nicht (wohl aber eine Beschrän-^[folgende Seite]