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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Volksschule

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Volksschule (geschichtliche Entwickelung).

Volksschule, Stadt- oder Landschule, welche, soweit dies auf der Stufe der bildungsfähigen Kindheit (vom vollendeten 6. bis zum vollendeten 14. Jahr) geschehen kann, diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten lehrt und zu derjenigen Bildung erziehend mitwirkt, deren ein jeder Mensch auch in den niedern Lebensständen als Glied eines gebildeten Volkes bedarf. Schon in dieser Begriffsbestimmung liegt angedeutet, daß die V. weder in den aristokratischen Staaten des Altertums, wo die bürgerlichen Rechte nur einer bevorzugten Minderheit gewährt, der Mehrheit der Unfreien aber versagt waren, noch auch im Feudalstaat des Mittelalters gedeihen, sondern ihren wahren Lebensboden nur in dem neuern Staate, der rechtlich verfaßten Volksgemeinde, finden konnte. Demgemäß gehören die Anfänge der V. den Jahrhunderten des Überganges (16. und besonders 17.) vom Mittelalter zur Neuzeit an, und erst in unsrer Zeit begannen selbst die gebildeten Staaten nach dem Vorgang Deutschlands das Volksschulwesen durchgreifend gesetzlich zuordnen. Vor der Reformationszeit war der Gedanke an eine allgemeine V. nur von wenigen erleuchteten Geistern geahnt worden; so dachte Karl d. Gr. an einen allgemeinen Volksunterricht durch die Priester, und ähnliche Pläne faßten hier und da wohldenkende höhere und niedere Geistliche oder städtische Obrigkeiten des Mittelalters, ohne aber ein rechtes Entgegenkommen für diese Ideen zu finden. Erst die Reformation brachte das Bedürfnis einer allgemeinen Volksbildung, die indes im Lesen der Heiligen Schrift fast ausschließlich ihr Ziel fand, allgemeiner zum Durchbruch. Dadurch wurden mittelbar die Reformatoren, Luther an der Spitze, die Begründer der deutschen V., als deren Lehrer durchweg die Küster oder niedern Kirchendiener wirkten. Der unmittelbare Einfluß der Reformatoren kam mehr den gelehrten, sogen. lateinischen Schulen zu gute. Die Stürme des Dreißigjährigen Kriegs unterdrückten fast überall die schwachen Ansätze der V., erweckten aber zugleich mit neuer Kraft das allgemeine Bedürfnis besserer Volksbildung, welche W. Ratich und besonders J. A. ^[Johann Amos] Comenius (s. d.) als das wichtigste Anliegen der Zeit verkündeten. Schon während der letzten Kriegsjahre gab Herzog Ernst der Fromme von Gotha (s. Ernst 13) das noch heute beachtenswerte Vorbild einer trefflichen Schuleinrichtung, dem nach und nach die übrigen deutschen Fürsten, besonders im protestantischen Norden, folgten. Zu dieser Zeit wurden in verschiedenen deutschen Ländern die ersten staatlichen Verordnungen über die allgemeine Schulpflicht erlassen. Seit Beginn des 18. Jahrh. übernahm Preußen auch auf diesem Gebiet die Führung, wozu namentlich der Einfluß des Spener-Franckeschen Pietismus mitwirkte. Friedrich Wilhelm I. erließ 1736 Principia regulativa für das Landschulwesen, die den Grundsatz der allgemeinen Schulpflicht gesetzlich feststellten, Friedrich H. 1763 das Generallandschulreglement. Beide Fürsten begünstigten auch die freilich noch sehr dürftigen Anfänge des Seminarwesens, welches seitdem sich parallel mit der V. fortentwickelt hat. Von ihrem Beispiel oder auch vom Geiste der Zeit angeregt, der Aufklärung des Verstandes über alles galt, folgten nach und nach die übrigen deutschen Fürsten, namentlich in Österreich, Bayern, Baden und in Württemberg, wo die V. schon früher verhältnismäßig hoch entwickelt war. In betreff der anregenden Einflüsse, welche auch das Volksschulwesen von der philanthropischen Bewegung seit 1770 erfuhr, darf auf den Artikel »Pädagogik« erwiesen werden. Vor allen andern ist in dieser Beziehung der Domherr v. Rochow (s. d. 1) mit Ehren zu nennen. Noch mächtiger war die gegen Ende des Jahrhunderts von Pestalozzi (s. d.) ausgehende Anregung, welche seit den Unglückstagen von Jena und Tilsit zu einer wirksamen Umgestaltung der V. in Preußen und demnächst im übrigen Deutschland führte, die leider durch die Verwickelungen der folgenden Jahrzehnte ins Stocken geriet. Unter den preußischen Pestalozzianern war längere Zeit Harnisch (s. d.) der einflußreichste, gab aber die Leitung in dem Maß an den liberalen Pestalozzianer Diesterweg (s. d. 2) ab, wie er sich der kirchlichen Reaktion zuneigte. Das Jahr 1848 erweckte große Hoffnungen für die in den Verdacht des Liberalismus gekommene und daher seit länger zurückgesetzte V.; um so empfindlicher war der Rückschlag der Reaktion, unter deren Einfluß der Minister v. Raumer im Oktober 1854 die sogen. drei Regulative, für Seminar-, Präparanden- und Volksschulwesen, verfaßt vom Geheimrat Stiehl, erließ. Diese offenbar einseitigen, aber von sachkundiger Hand zeugenden Vorschriften waren in den folgenden Jahren Gegenstand heftiger Kritik, werden aber jetzt, nachdem sie durch die allgemein als vortrefflich anerkannten Bestimmungen des Ministers Falk (Oktober 1872, entworfen vom Geheimrat Schneider) abgelöst sind, ruhiger und sachlicher beurteilt. Seit 1872 ist sehr viel für die äußere und innere Hebung der V. in Preußen geschehen, aber auch die Größe des Bedürfnisses erst recht zu Tage getreten, dem nach verschiedenen Richtungen hin noch lange nicht genügt ist. Das im Artikel 26 der Verfassung von 1850 verheißene und lang ersehnte Unterrichtsgesetz, für welches schon 1817 von Süvern und später unter den Ministern v. Ladenberg (1848-50) und v. Mühler (1862-72) Vorlagen ausgearbeitet waren, ist unter dem Minister Falk (1872-79) abermals im Entwurf fertig gestellt, aber, wie man annimmt, wegen finanzieller und politischer Bedenken von der Staatsregierung dem Landtag nicht vorgelegt worden. Statt dessen hat man durch eine Reihe von Einzelgesetzen, unter denen als wichtigstes das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 voransteht, klarere Stellung der V. zu den Behörden des Staats und der Kirche wie bessere Ausstattung der V. selbst und ihrer Lehrer angestrebt: nicht ohne anerkennenswerten Erfolg, aber doch auch nicht mit der durchgreifenden Wirkung, daß dadurch das Bedürfnis eines Volksschulgesetzes als erledigt angesehen werden könnte. Die meisten kleinern deutschen Staaten, deren einfachere Verhältnisse das Vorgehen erleichterten, sind in neuester Zeit in dieser Hinsicht über Preußen hinausgeschritten, so: Oldenburg (1855), Sachsen-Gotha (1863), Baden (1868-1874), Hamburg (1870), Württemberg (1835-73), Königreich Sachsen (1873), Hessen, Sachsen-Weimar und Koburg (1874), Meiningen (1875). Die meisten dieser Gesetze dehnen die Schulpflicht auch auf den Besuch der Fortbildungsschulen bis zum 16. oder 17. Lebensjahr aus, die in Bayern und Württemberg schon früher mit teilweisem Besuchszwang bestanden.

In Österreich-Ungarn, wo die Verhältnisse in den verschiedenen Kronländern sehr voneinander abweichen, ist nach Aufhebung des Konkordats von 1855 im J. 1867 das Volksschulwesen gesetzlich neu geregelt und seitdem Gegenstand sorgfältiger Pflege, aber auch erbitterter Parteikämpfe gewesen. Die grundlegenden Gesetze sind in Ungarn das von 1868, in Österreich das Reichsgesetz vom 14. Mai 1869 mit der Novelle vom 23. Mai 1883. Neue Gesetze über das Volksschulwesen sind überhaupt fast von allen euro-^[folgende Seite]