Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

227

Deutsche Litteratur (seit 1885: Roman und Novelle).

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Deutsche Litteratur'

Anmerkung: Fortsetzung von [Roman und Novelle.]

durch lebensvollen kleinern Romane Fontanes: »Cecile«, »Irrungen - Wirrungen«, der Roman »Dunst und Geld« von Karl Frenzel, endlich die größern Erzählungen von Marie v. Ebner-Eschenbach: »Zwei Komtessen«, »Das Gemeindekind« und »Die Unverstandene auf dein Dorfe« mit Recht starken Anteil. Von poetischer Kraft zeugten die Romane und Novellen der früh verstorbenen Margarete v. Bülow, namentlich »Jonas Briccius«, ferner »Der Sohn der Volskerin« und »Die neue Circe« von Richard Voß, der auch in Roman und Novelle die eigentümliche Mischung echt poetischer Empfindungs- und Darstellungskraft und krankhafter Unwirklichkeit zeigt, deren bei seinen Dramen gedacht werden mußte. Bedeutend und geistreich, aber mehr durch Reflexion als durch poetische Erfindung und Charakteristik getragen erschienen die Romane »Die Sebalds« und »Zwei Wiegen« von Wilhelm Jordan. Mit den Romanen »Die Krankheit des Jahrhunderts« von Max Nordau, »Hymen« von Oskar v. Redwitz, der Romanfolge »Berlin« von Paul Lindau, den Romanen »Dunkle Existenzen« und »Menschenschicksale« von Konrad Telmann beginnt eine Reihe von Darstellungen, in denen entweder ein unerfreulicher Vorwurf durch die Würze des Räsonnements, der pikanten Szenen genießbar und anziehend gemacht werden soll, oder die poetische Absicht der Verfasser weit über die darstellende Kunst und Kraft hinausgeht. Von dem fast allzu produktiven Wilhelm Jensen erschienen die Romane »Runensteine«, »In der Fremde«, die Novellensammlungen »Aus stiller Zeit« und »Aus schwerer Zeit«, überall wieder die außerordentliche Phantasie und Stimmungskraft des Dichters, aber auch den Zug zum Manierismus besthätigend, der ihm wie vielen Poeten der Gegenwart eigen ist. Die Romane von Aug. Niemann (»Eulen und Krebse«, »Am Hofe« u.a.), von Robert Byr, L. Haidheim, E. A. König, Max Ring, C. ^[richtig: H.] Rosenthal-Bonin, auch die etwas anspruchsvollern von Ossip Schubin neigen schon alle nach der mehr oder minder fesselnden, meist stark gewürzten Unterhaltungslitteratur hinüber.

Im humoristischen Roman behauptete (von Keller abgesehen) noch immer Wilh. Raabe mit seinen eigentümlichen, um der Komposition und klaren Handlungsführung selten, um der Tiefe der Stimmung und der genialen Blicke in das Menschenleben und -Wesen fast immer zu lobenden kleinen Romanen mit und ohne historischen Hintergrund das Feld. Von ihm reihten sich die Bücher: »Das Odfeld«, »Im alten Eisen«, »Zum wilden Mann« den früher erschienenen humoristischen Bildern aus deutschem Leben, aus einer verschwindenden Kulturwelt würdig an. Größern Erfolg als Raabes poetische Auffassung und Darstellung hatte die witzig-satirische der Buchholzbücher von Jul. Stinde: »Die Familie Buchholz«, »Buchholzens in Italien«, »Buchholzens im Orient« etc., in welchen das durchschnittliche Berlinertum zugleich verspottet und verherrlicht ward, die übrigens in ihrer locker-lässigen Form kaum noch den Namen von Romanen in Anspruch nehmen können. Ein humoristischer Roman von frischer Bewegung war »Moderne Argonauten« von Frank Harkut.

Der historische Roman ward in der jüngsten Vergangenheit zum Gegenstand der heftigsten, leidenschaftlichsten Angriffe, die ebensosehr über das Ziel hinausschossen, als eine gewisse Bildungsphilisterei den Wert geschichtlicher Stoffe ohne echt poetische Belebung traurig überschätzte und, wie die immer neu auftauchenden Romane aus antiken, byzantinischen und völkerwanderlichen Zeiten beweisen, zu überschätzen ↔ fortfährt. Die Acht, welche die naturalistische Ästhetik und Kritik über jede nicht aus der unmittelbarsten Gegenwart geschöpfte Erfindung ausspricht, ist um deswillen undurchführbar und sinnlos, weil der gute historische Roman, der zugleich ein echt dichterisches Werk ist, sich immer wieder an die Gegenwart richten wird. »Das Tagesgelärm der augenblicklichen Wortführer der Aktualität ist so knabenhaft, daß es jede wahrhafte Widerlegung ausschließt; nur völlige Kenntnislosigkeit von dem, was überhaupt Dichtung ist, und wo die Dichtung ihre Kraft birgt, gibt sich in dem ganzen Lärm kund.« (Jensen.) Gleichwohl darf das nicht verkannt werden, daß der historische Roman in eben dem Maß an Lebenskraft verlor, als seine litterarischen Pfleger der Forderung, daß auch er gelebt, innerlich erlebt und angeschaut sein müsse, zu gunsten irgend welcher Neben- und Unteraufgaben auszuweichen begannen. In dem in Rede stehenden Jahrfünft wurde die historische Romanfolge »Die Ahnen« von Gustav Freytag, in deren letzten Teilen die poetischen Motive und Gestalten empfindlich hinter die kulturhistorischen und politischen Momente zurücktraten, zu Ende geführt. Starkes und eignes Leben, glänzende Phantasie, die doch allzusehr auf den Bildungsvoraussetzungen eines gelehrten und vielwissenden Geschlechts beruht und darum in ihren Motiven und Gestalten oft der Einfachheit entbehrt, offenbaren die neuern historischen Erzählungen von Konrad Ferdinand Meyer: »Die Richterin«, »Die Hochzeit des Mönchs«, »Die Versuchung des Pescara«. Von Ad. Stern erschien der Roman »Camoëns«, der die historisch-dunkle und rätselvolle spätere Lebensgeschichte des großen portugiesischen Heldendichters poetisch zu erhellen unternimmt. Weitere historische Romane waren: »Der große Kurfürst in Preußen« von Ernst Wichert, »Aphrodite« und »Nero« von Ernst Eckstein, »Die Gred« von Georg Ebers, »Das Schatzhaus des Königs«, »Octavia« von Wilhelm Walloth, die Folge kleiner Romane aus der Völkerwanderung von Felix Dahn, denen allen gegenüber das Wort gilt, daß keine poetische Gattung der Welt aus andern als poetischen Gründen vorhanden sein darf, daß der schlechteste Dienst, der sich dem historischen Roman und der historischen Novelle leisten läßt, der ist, sie für eine Art didaktischer Dichtung in Prosa zu erklären. Nur wo der historische Roman Anlaß wird, gewisse Seiten des Lebens, gewisse Erscheinungen und Empfindungen, gewisse Gestalten darzustellen, ohne welche das poetische Bild der Menschheit wesentlich ärmer sein würde, nur wo ein Stück Leben entweder ausschließlich oder doch mit ergreifender Stärke und Deutlichkeit gerade nur am historischen Vorgang oder auf historischem Hintergrund darzustellen ist, kann der historische Roman mit dem, der das allen vertraute Leben des Tags erfaßt, in die Schranken treten.

Das Gleiche gilt vom ethnographischen Roman, in welchem ein fremdartiges Volksdasein und Landschaftsleben die poetischen Motive entweder bestreiten oder verstärken muß. Die bedeutendste Erscheinung auf diesem Gebiet war »Ein Kampf ums Recht« von Karl Emil Franzos, in welchem das alte tragische Motiv vom versagten Recht und der daraus hervorgehenden Gewaltthat, auf die Verhältnisse des europäischen Ostens, Halbasiens, angewendet, eine Erfindung und Handlung der wirksamsten Art ergab. Vom Verfasser des gleichen Romans traten außerdem die Erzählung »Die Schatten« und »Tragische Novellen hervor.

Die Novelle, die noch immer vielseitig, um nicht

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 228.