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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutschland (Geschichte 1888).

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Deutschland'

Anmerkung: Fortsetzung von [Geschichte.]

Vertrauen auf das Gelingen wie vor einem Jahr. Um Liebe werben wir nicht mehr, weder in Frankreich noch in Rußland. Die russische Presse, die russische öffentliche Meinung hat einem alten, mächtigen und zuverlässigen Freund, der wir waren, die Thür gewiesen. Wir drängen uns nicht auf .... Wir können durch Güte und Wohlwollen leicht zu Entschließungen bestimmt werden, vielleicht zu leicht, aber durch Drohungen ganz gewiß nicht. Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.«

Die Wirkung dieser mächtigen Rede war, daß der Führer des Zentrums, Freiherr v. Franckenstein, die Verweisung der Anleihevorlage an die Budgetkommission beantragte und schon jetzt erklärte, daß seine Partei den Antrag auf En bloc-Annahme des Wehrgesetzes stellen würde, um damit die Anerkennung und Berücksichtigung der damaligen Gesamtlage zum Ausdruck zu bringen. v.Helldorf (Deutschkonservative), v. Bennigsen (Nationalliberale), Graf Behr (Reichspartei) und Rickert (Deutschfreisinnige) folgten mit ähnlichen Erklärungen, und ohne Widerspruch wurde das Wehrgesetz im ganzen einstimmig angenommen. Die Anleihevorlage wurde auf Grund der in geheimer Sitzung gemachten Mitteilungen der Regierung von der Kommission und 10. Febr. vom Plenum genehmigt und beide Gesetze sofort veröffentlicht. Von den sonstigen Beschlüssen des Reichstags waren die nochmalige Verlängerung des Sozialistengesetzes auf 2 Jahre (17. Febr.) und die auf Antrag der Kartellparteien beschlossene Verlängerung der Legislatur- und Wahlperiode des Reichstags von 3 auf 5 Jahre (9. Febr.) von Bedeutung. Auch das Etatgesetz wurde im März erledigt.

Die patriotische Opferwilligkeit, welche sich in der einstimmigen Annahme des Wehrgesetzes und der Anleihevorlage gezeigt, hatte dem Kaiser Wilhelm noch eine letzte Freude bereitet. Nicht lange darauf starb er, 9. März 1888, kurz vor Vollendung seines 91. Lebensjahrs. Sein Nachfolger, der bisherige Kronprinz Friedrich Wilhelm, jetzt Kaiser Friedrich III. (s. d., Bd. 17), weilte in San Remo, wohin er zur Heilung seines schweren Leidens sich im Herbst 1887 begeben hatte, ohne freilich den gehofften Erfolg zu finden. Dennoch reiste er auf die Kunde von dem Tod seines Vaters 10. März von San Remo ab und kam, in Leipzig vom Reichskanzler und vom Staatsministerium erwartet, am späten Abend des 11. März in Charlottenburg an. Schon 12. März ergriff er in einer Proklamation »An Mein Volk« von der Herrschaft Besitz und schloß mit den Worten: »Durchdrungen von der Größe Meiner Aufgabe, wird es Mein ganzes Bestreben sein, das Werk in dem Sinn fortzuführen, in dem es begründet wurde, D. zu einem Hort des Friedens zu machen und in Übereinstimmung mit den verbündeten Regierungen sowie mit den verfassungsmäßigen Organen des Reichs wie Preußens die Wohlfahrt des deutschen Landes zu pflegen«. In einem gleichzeitigen Erlaß an den Fürsten Bismarck, dem er sich zu warmem Dank verpflichtet erklärte, legte er ausführlicher die Gesichtspunkte dar, die für die Haltung seiner Regierung maßgebend sein sollten, und für deren Durchführung er auf Bismarcks Hingebung und Unterstützung rechnete. Diese Gesichtspunkte unterschieden sich nicht wesentlich von denen seines Vaters, und es war unberechtigt, daß die Presse der deutschen freisinnigen Partei dieses Erlasses wegen den neuen Kaiser für ihren Parteigenossen ansah und als solchen überschwenglich feierte. Kaiser Friedrich, wohlwollend und leutselig, in andern Zeiten und andrer Umgebung aufgewachsen und alt geworden als sein ↔ Vater, hatte von manchen Dingen eine freiere, tolerantere Auffassung als dieser, war namentlich in der Auswahl seines Verkehrs nicht exklusiv; er sah gern Politiker auch oppositioneller Parteien, Gelehrte und Künstler um sich, und sein Hof würde sich nicht so rein militärisch gestaltet haben, wie der Wilhelms I. Aber von einer Minderung seiner monarchischen Machtstellung und seiner kriegsherrlichen Rechte wollte auch er gewiß nichts wissen. Die deutsche freisinnige Partei jedoch, auf einige Äußerungen des ehemaligen Kronprinzen sich stützend und ungeduldig, endlich einmal den Einfluß, den sie unter Kaiser Wilhelm und Bismark verscherzt hatte, bei der Regierung des neuen Herrschers zu gewinnen, ließ nicht ab, ihre Zeit für gekommen zu erklären, und rechnete dabei auf die Unterstützung der Kaiserin Viktoria.

Kaiser Wilhelm I. wurde 16. März in einem imposanten Leichenzug, in welchem alle europäischen Fürstenhäuser vertreten waren, im Mausoleum zu Charlottenburg bestattet. Die Volksvertretungen der meisten Nationen gaben ihrer Verehrung für den dahingeschiedenen großen Monarchen und ihrer Teilnahme an dem Geschick des deutschen Volkes Ausdruck; der Reichstag sprach 19. März seinen Dank dafür aus und richtete als Antwort auf die Botschaft des Kaisers Friedrich 20 März eine Adresse an denselben, worauf seine Sitzungen geschlossen wurden. Der Kaiser residierte in Charlottenburg und war selten sichtbar. Um so mehr schwirrten Gerüchte über seinen Gesundheitszustand und seine Absichten umher. Die Kaiserin Viktoria wünschte eine schon 1884 geplante, aber damals vom Kaiser Wilhelm I. verhinderte Heirat ihrer Tochter Viktoria mit dem ehemaligen Fürsten von Bulgarien, dem Prinzen Alexander von Battenberg, zu stande zu bringen. Fürst Bismarck erhob, als er von dem Plan Mitteilung erhielt, sofort Einspruch, weil durch die Heirat das kaum beschwichtigte Mißtrauen des Zaren wieder erweckt werden müßte, und bat für den Fall, daß der Kaiser darauf bestehe, um seine Entlassung. Doch ließ Kaiser Friedrich den Heiratsplan vorläufig fallen. Da aber die deutschfreisinnige Presse, die mit dem Hof durch Mackenzie u. a. in Verbindung stand, Bismarck seines Einspruchs wegen aufs heftigste angriff, so entstand eine gewisse Erregung und Besorgnis in nationalen Kreisen, als könne der Reichskanzler wirklich entlassen werden, und es entspann sich ein hitziger, wenig erfreulicher Zeitungsstreit, welcher durch allerlei Klatschereien genährt wurde. Trotz der schönfärbenden Berichte des englischen Arztes Mackenzie über den Gesundheitszustand des Kaisers starb dieser 15. Juni 1888 nach einer Regierung von 99 Tagen in Schloß Friedrichskron, wohin er 1. Juni übergesiedelt war. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, als Kaiser für das Reich längere Zeit und mit Erfolg zu wirken.

Der neue Kaiser, Wilhelm II., ergriff durch lebhafte Proklamationen an Heer und Marine sofort 15. Juni 1888 von der Herrschaft Besitz. Der Übergang derselben fand ohne jede Störung statt. Dennoch hielten es der neue Kaiser und Fürst Bismarck, der das Vertrauen des jugendlichen Herrschers im vollsten Maß genoß, für wünschenswert, in anbetracht der mißgünstigen Gerüchte und Behauptungen in der fremden Presse die Einmütigkeit der deutschen Fürsten und Freien Städte in der Anerkennung des neuen Reichsoberhauptes und dessen friedliche Gesinnung durch einen besonders feierlichen Akt öffentlich zu bekunden. Der Reichstag wurde daher zur Entgegennahme einer kaiserlichen Botschaft auf den 25. Juni einberufen und sämtliche regierende Fürsten und die

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 240.