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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (seit 1884: Novelle, Drama)

er das Pariser Elend auf allen Stufen der Gesellschaft schildert; Abel Hermant, der sich durch Pessimismus auszeichnet, im "Cavalier Miserey", der ihm wegen seiner übertriebenen Schilderung des Kasernenlebens Duelle mit Offizieren zuzog, wie in "La Surintendante", einem Zerrbild der heutigen politischen Welt; Paul Bonnetain, Frau Charles Bigot (Jeanne Mayret), Léon de Tinseau, die beiden letztern in der Frauenwelt, die anständige Lektüre sucht, sehr beliebt.

Eine Romangattung endlich, die gedeiht, weil sie keinerlei sittliche Grenzen und Bedenken kennt, sei ebenfalls nur vorübergehend mit ihrem vornehmsten, hochbegabten Pfleger, Catulle Mendès, erwähnt. In ehrbarer Gesellschaft darf nur seine "Grande Maguet" als lesenswert genannt werden; seine meisten übrigen Bücher entziehen sich, gleichwie seine Nacheiferer und Nachahmer, der Besprechung.

Die Novelle wird bei der zunehmenden Raffiniertheit der Erzählungskunst wieder mehr zu Ehren gebracht und hat eine reichere Auswahl an Erzeugnissen aufzuweisen als noch vor wenigen Jahren. Catulle Mendès zeigt darin seine Formvollendung mit seinem Cynismus, wie Ludovic Halévy seinen Witz und seine Inszenierungsgabe in "Princesse", *Villiers de l'Isle Adam, dessen Roman "L'Ève future" die Anwendung der Edison-Erfindungen bei der Erschaffung eines vollkommenen mechanischen Weibes in höchst phantastischer Weise vorführt, seinen Totengräberhumor in den "Histoires insolites", François Coppée seine Liebe zu den Mühseligen und Beladenen in einem Band "Contes rapides". Maupassant sammelt seine da und dort erscheinenden, meist sehr realistischen Erzählungen in Bänden, denen er nach der herrschenden Sitte jeweilen den Namen der größten derselben gibt; Paul *Bourget bietet als "Pastels" eine Galerie zarter, duftiger, melancholischer Mädchen- und Frauengestalten, und diesen schon bekannten Schriftstellern schließen sich Jules *Lemaître und Anatole France mit Gyp an. *Gyp (Gräfin Martel-Mirabeau) gefällt sich gewöhnlich in übermütigen, satirischen Bildern gesellschaftlicher und politischer Zustände, bei denen die dem Boulevard-Argot entlehnte Sprache, ein Gemisch von Gamins-, Salon-, Atelier- und litterarischen Ausdrücken neuesten Datums oft das meiste zur Wirkung beitragen, die man jenseit des Pariser Weichbildes kaum mehr begreifen dürfte. In "Petit bleu" hat sie plötzlich einen andern Ton angeschlagen, der auf eine neue Seite ihres Talents schließen läßt, einen innigen Herzenston, der mit dem Lachen eines mutwilligen Kindes anhebt und in Thränen ausklingt. Anatole France ist als Romanschriftsteller durch "Le crime de Sylvestre Bonnard" bekannt geworden, hat sich aber seitdem fast ausschließlich der litterarischen Kritik zugewandt und tritt nur selten mit ursprünglichen Erzeugnissen seiner Feder hervor, zierlichen und gezierten, fein ziselierten, bald gedankentiefen, bald neckischen, vorwiegend melancholischen Feengeschichten, Märchen, ironischen Bearbeitungen christlicher Legenden, wie sie in "Balthasar" vorliegen, einem dem Vicomte Melchior de Vogüé gewidmeten Band. Auch Jules *Lemaître hielt sich für berufen, die Legende durch "Serenus" zu bereichern, eine Märtyrergeschichte aus dem Rom des Jahrs 90, welche an die Art Gottfried Kellers in den "Sieben Legenden" erinnert. Die dem Buch angehängten Erzählungen und Aufsätze sind von verschiedenem Wert, aber alle von dem Geist eines mit Paradoxen behende spielenden, formgewandten Schriftstellers eingegeben.

Dramatische Litteratur.

Zwei neue Buchdramen Ernest Renans: "Le prêtre de Nemi" und "L'abbesse de Jouarre", mögen hier zuerst verzeichnet werden. Der "Prêtre de Nemi" (in der Vorrede von Renan selbst mit "Caliban" und "L'eau de Jouvence" als Fortsetzung seiner "Dialogues philosophiques" bezeichnet) enthält eine Ausführung des Glaubens an den endgültigen Sieg des religiösen und sittlichen Fortschritts trotz Thorheit und Bosheit, trotzdem in der Politik das Verbrechen belohnt und die Tugend bestraft wird. "L'abbesse de Jouarre" feiert die Freude am Dasein, den Triumph der Liebe angesichts des Todes mit einer Vorurteilslosigkeit, welche bei dem einstigen Zögling von Saint-Sulpice doppelt befremdet. In Italien wurde die "Abbesse de Jouarre" als eine vermeintlich antiklerikale Kundgebung auf die Bühne gebracht, aber nur vorübergehend, während man sich in Frankreich mit der Wahrnehmung der Thatsache begnügt, daß die Neugier Renans sich unablässig auch auf Gebiete ausdehnt, die ihr bisher verschlossen schienen. Schon eher bühnenfähig wäre die neueste dramatische Arbeit Octave Feuillets: "Le divorce", allein es ist anzunehmen, daß der beliebte Schriftsteller nicht mit der Veröffentlichung in der "Revue des Deux Mondes" und in Buchform begonnen hätte, wenn er einen andern Ruhm anstrebte als den, möglichst viele Leserinnen der Ehescheidung abwendig zu machen. Solange diese erst in Aussicht stand, war die Polemik auf dem Theater und im Roman eine sehr lebhafte und ernste. Jetzt aber, seitdem das Gesetz wieder in Kraft getreten ist, übt sich vorwiegend der Witz der Bühnendichter daran, denen er einen noch unerschöpften Stoff zu komischen Situationen liefert, wie z.B. in "Gotte" von Henri Meilhac, in "Les surprises du divorce" von Al. *Bisson und Antony Mars. "Un divorce" von Emile Moreau und Georges André faßt hingegen die Sache tragisch auf, während "Le divorce de Sarah Moore" von Jacques Rozier sie von der amerikanischen Seite zwar mit beabsichtigtem Ernst, aber in so grellen Farben und unwahrscheinlichen Verwickelungen zeigt, daß das französische Publikum im Odéon dabei nicht minder lachte als bei den ersten Aufführungen von Sardous "Divorçons!" im Palais-Royal. Der Verfasser, oder richtiger die Verfasserin, des "Divorce de Sarah Moore" (Frau Paton) hatte sich durch den Erfolg des gleichnamigen Romans über die Möglichkeit, in einer raschen Handlung seltsame Seelenzustände zu beleuchten, hinwegtäuschen lassen, ein Irrtum, den immer mehr Schriftsteller, und von den bekanntesten, mit ihr teilen. Wenn das so fortgeht, so dürfte bald ein Roman, aus dem niemand ein Theaterstück herauszuschneiden sucht, eine Seltenheit werden. Daudet hat "Sapho" und "Numa Roumestan" aufführen lassen ("L'Immortel" u. d. T.: "La lutte pour la vie", "Der Kampf ums Dasein", ist ebenfalls schon angekündigt). Ed. de Goncourt "Renée Mauperin" und "Germinie Lacerteux", Zola "Le ventre de Paris", "Renée", "Germinal", Alex. Dumas "L'affaire Clémenceau" (von Armande Dartois bearbeitet). André Theuriet "Raymonde", "La maison des deux Barbeaux", Jules Claretie "Le prince Zilah", Jules de Glouvet "Le père", Bourget "Les Mensonges", Jules Verne "Mathias Sandorf", Albert Delpit "Mademoiselle de Bressier", Ludovic Halévy "L'abbé Constantin", Georges Ohnet "Comtesse Sarah", "La grande Marnière", und man kann wohl sagen, daß außer den letztgenannten Werken Ohnets