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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (seit 1884: Lyrik)

Massen, aber auch ein Ideal von Gerechtigkeit, Bürgersinn, Hingebung an das Vaterland befriedigen wollen, ehrwürdig und der Beachtung des Kulturforschers wert aus: "Carnot" von Blondeau und Jonathan, "L'Inflexible" von Parodi und Vilbert, "La guerre" von Erckmann-Chatrian, "Augereau ou les volontaires de la République" von Gaston Marot, "La casquette du père Bugeaud" (nach einem bekannten Soldatenlied) von Gaston Marot und Clarian, "Jacques Bonhomme" von A. Maujan (Jean Malus), "Roger la Honte" von Jules Mary und Georges Grisier u. a. m.

Zu erwähnen ist hier noch ein Institut, welches sich unter der Leitung Antoines, eines gewandten Geschäftsmanns und zugleich Schauspielers, die Aufgabe gestellt hat, solche Arbeiten zur Aufführung zu bringen, welche auf den öffentlichen Bühnen aus irgend einem Grund, entweder wegen ihrer Waghalsigkeit oder Schamlosigkeit oder auch nur, weil sie gegen alle Regeln der Theatertechnik verstoßen, nicht gespielt werden können. Das Théâtre libre fand einen Abonnentenkreis, Kapitalisten, darunter solche aus dem Haus Rothschild, und Dilettanten, und macht neben unbekannten Autoren auch bekannte, Zola, de Goncourt, de Maupassant, Villiers de l'Isle Adam, Bergerat, Théodore de Banville, Henry Céard, Catulle Mendès, durch ein- oder zweimalige Elektrisierung ihrer Schmerzenskinder glücklich. Das Hauptereignis der Bühne, welche von den Abhängen des Montmartre nach dem linksuferigen Boulevard Montparnasse und von hier endlich nach dem Mittelpunkt von Paris verlegt wurde, war aber bisher die Aufführung von Tolstois "Die Macht der Finsternis", eines düstern, grausigen, bestialischen Nachtstücks aus dem russischen Bauernleben, auf das Ibsens "Gespenster" folgen sollen. Nach dem Gegebenen hat es noch nicht den Anschein, als ob der Unverstand, die Routine der Theaterdirektoren so viele große Kunstwerke im Keim zu ersticken pflegten, wie Zola, Bergerat und andre Neuerer mit ihnen behaupten. Im Gegenteil sind die Abende des Théâtre libre mit geringen Ausnahmen eher eine Rechtfertigung des Geschmacks der Angeklagten, welche Schöpfungen von so rohem Realismus, wie "La fin de Lucie Pellegrin", "La pelote" von Paul Bonnetain, "Rolande" von de Gramont, abgelehnt hatten.

Lyrik.

"Toute la lyre" heißen die zwei letzten Bände gesammelter Gedichte, welche die pietätvollen Testamentsvollstrecker Victor Hugos, Auguste Vacquerie und Paul Meurice, aus dem Nachlaß ihres großen Freundes fast gleichzeitig mit seinen Dramen: "Les jumeaux" (unvollendet) und "Amy Robsart" herausgaben. Die Gedichte verteilen sich auf ein halbes Jahrhundert und dürften teilweise von dem Sänger selbst als unzulänglich oder Wiederholungen von schon Gesagtem beiseite gelegt worden sein. Was der Leser darin findet, kommt ihm wie Altbekanntes vor, abwechselnd großartig und kindisch, ein Gewebe von Antithesen, ein funkelndes Geschmeide, dessen Steine nicht alle echt sind, aber auf den ersten Blick den Schein für sich haben. "Le Bonheur" von Sully-Prudhomme ist ein poetisch-philosophischer Aufschwung zum höchsten Ideal der Selbstverleugnung. Ein edles Liebespaar, welches schon in den Wonnen des Jenseits schwelgt, wird von den Klagen der bedrängten Menschheit aus seiner Seligkeit aufgescheucht. Die Guten machen sich auf, ihr Hilfe u. Hoffnung zu bringen, aber nach langen läuternden Wanderungen durch die Gestirne finden sie auf der Erde nur noch den Tod, der ihnen erzählt, wie das alte sündige Geschlecht vernichtet ist, seine Knochen zerstreut modern und was Unvergängliches in ihm war, in bessere Sphären entrückt wurde. Faustus und Stella, von unendlichem Mitleid ergriffen, widmen sich der freiwilligen Sendung, die Trümmer aufzurichten, den Erdkreis mit einem neuen Geschlecht zu bevölkern, dem sie ihr schwer errungenes Wissen und das Geheimnis der Glückseligkeit, des Friedens auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen in selbstlosem Wirken mitteilen. Nicht so olympisch heiter und ruhig dahinfließend, aber immer sprachgewaltig, manchmal hinreißend schön, voll tiefer Naturempfindung, wenn auch da und dort durch die wilden Sprünge einer ausschweifenden Phantasie verunstaltet ist die Gedichtsammlung "La Mer" von Jean Richepin, ein prächtiges realistisches Seitenstück zu Heines "Nordsee". Mit Richepin durch das Sprachtalent und die Geisteskühnheit verwandt, in der Auffassung des Lebens aber weniger heidnisch erscheint Maurice Bouchor. Er durchforscht in den "Symboles" alle Religionen und findet zwar darin nicht die Lösung banger Zweifel, gönnt ihnen aber das Zeugnis, daß sie seit dem Bestehen der Menschheit Unzähligen Trost und Labung spendeten, mit ihren heiligen Mythen der Urquell des Besten und Erhabensten im Erdgebornen waren. François Coppée und Jean Aicard, bekannte Dichter, welche sich durch den harmonischen Ausdruck mittlerer Stimmungen ein Frauenpublikum sicherten, blieben ihren Gewohnheiten mit "L'Arrière-saison" und "Le livre d'heures de l'amour" treu; nur daß Coppée, persönlicher als sonst, einen eignen späten Liebesfrühling in seinen Liedern zu feiern scheint. Eigenartig durch stilvolle Einfachheit sind die poetischen Blüten, die Philippe *Gille bescheiden nicht einmal zu einem Strauß bindet, sondern nur zu einem "Herbier" (Herbarium) sammelt, während wie ein Omen die in feierlich klassischem Gewand einherschreitenden "Poèmes de la mort" durchwehen, welche der Herausgeber der Werke von Daniel Stern (Gräfin d'Agoult), der Verfasser der "Mort du Centaure", L. de Ronchaud, noch kurz vor seinem Tod veröffentlichte. Niemals weniger als jetzt stand vielleicht die moderne lyrische Dichtung in Ehren. Sogar die Dichter, deren Ruf schon feststeht, werden mehr gepriesen als gelesen, und obwohl nicht selten wahre Perlen der Empfindung in künstlerischer Form da und dort auftauchen, die zum Teil von Frauennamen gezeichnet sind, so gehen sie in der Tagesströmung unter, wenn nicht besondere Glücksumstände ihre Veröffentlichung begünstigen. Dies traf bei den "Poèmes lyriques" von Frau Tola Dorian zu, einer gebornen Russin (Fürstin Metscherskij), sowie bei den "Rayons et ombres" von Griselin, der jugendlichen Tochter eines hohen Verwaltungsbeamten der Stadt Paris, welche beide ihre Verleger wählen konnten. Ebenso ist eine litterarische Gattung, die eine enge Verwandtschaft mit der lyrischen Poesie aufweist, fast nur auf Frauen zurückzuführen, die Gedanken, Bekenntnisse schöner Seelen, Selbstbetrachtungen in ungebundener, aber gewöhnlich höchst gewählter, sorgfältiger Rede, wie z. B. "La neuvaine de Colette" als deren anonyme Verfasserin eine Weltdame genannt wird, die "Pensées" von Frau Calmon, und eine ganze Bibliothek, zu der Frau Blanchecotte, die Marquise de *Blocqueville, die Comtesse Diane, Frau Alphonse Daudet: "L'enfance d'une Parisienne", "Impressions de nature et d'art", "Les enfants et les mères", Daniel Darc (die 1887 verstorbene Frau Régnier), Frau