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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (seit 1884: Memoiren)

logues!", einer Sammlung leichtgeschürzter, aber manchmal den Nagel auf den Kopf treffender Dialoge oder Tagebuchaufzeichnungen, die man zuerst in der "Vie parisienne" lesen konnte. Der Band ist dem überzeugtesten aller Psychologen, Anatole France, gewidmet.

Die Memoirenlitteratur bietet auch diesmal wieder des Interessanten viel. Der überlebende der beiden Goncourt, Edmond, ist dermaßen mit seinem vor 18 Jahren verstorbenen Bruder verwachsen, daß er sich in die Nachwelt versetzt wähnt und ihr die Aufzeichnungen ausliefert, die erst nach beider Tod hätten veröffentlicht werden sollen, zwei Bände, von denen der eine die Jahre 1851-61, der andre 1862-65 umfaßt. A. Daudet nannte sie "das goldene Buch der modernen Litteratur", weil alles geistige und künstlerische Schaffen darin besprochen, erörtert, ergründet wird. Aber auch des Persönlichen enthält das Tagebuch viel, charakteristische Züge, Bosheiten, Hiebe auf Tagesgrößen, und man kann sagen, daß nur eine einzige Person darin gänzlich geschont wird: die Prinzessin Mathilde (Demidow-Bonaparte), die Gönnerin und Freundin beider Goncourt. Aus diesem Grund soll das Tagebuch zu Edmonds Lebzeiten nicht weiter zur Mitteilung gelangen. Dagegen erschienen "Préfaces et manifestes littéraires", streitbare Vorreden zu allen Büchern der Brüder Jules und Edmond sowie Edmonds allein, zu den Romanen "Germinie Lacerteux" bis "Chérie", welche die moderne Weiblichkeit verkörpern soll, zu den kulturgeschichtlichen Werken über das 18. Jahrh. wie zu den Theaterstücken und den japanischen Katalogen. Wer dadurch noch nicht erschöpfend belehrt ist, kann "Les Goncourt", das Werk ihres enthusiastischen, freilich auch unkritischen Bewunderers Alidor Delzant, zu Rate ziehen.

Die Witwe Michelets gab einen zweiten Band "Journal de Michelet" heraus, nach der Kindheit die ersten Lehrjahre des jungen Professors, der durch Beobachtung des eignen Wesens zur Menschenkenntnis gelangt und selbstquälerisch an seiner Vollendung arbeitet. Gewiß zu dem Bemerkenswertesten, was Tagebuchaufzeichnungen je boten, zählt das "Journal de Marie Bashkirtseff", zwei Bände, aus dem Material zu acht oder zehn von André Theuriet gezogen, welcher auch die Einleitung dazu in Versen schrieb. Marie Bashkirtseff ist eine junge, verwöhnte Russin, ein frühreifes, seltsames, überreiztes Geschöpf, das im Schoß des Reichtums, aber in unglücklichen Familienverhältnissen aufwächst, alles lernt, alles nachempfindet, sich alles aneignet, eine prächtige Stimme hat und verliert, dann nach unstetem Wanderleben in Paris Malerin werden will, in zwei Jahren durch eisernen Fleiß unglaubliche Resultate erzielt und an der Auszehrung stirbt, nachdem sie wenig genossen, aber in der Einbildung viel gelitten, eine Welt von Gefühlen durchgekostet hat. Die Darstellung ist ursprünglich, eigenartig, sprachlich oft unrichtig, aber immer bezeichnend, überraschend durch die Frische und das Kernhafte des Aufdrucks, welcher manchmal burschikos, ja derb wird und sich unter der Feder eines Mädchens nur durch kosmopolitische Erziehung oder Nichterziehung erklären läßt. Ebenfalls mit kindlichen Aufzeichnungen beginnt ein andres Memoirenwerk einer Slawin, der Fürstentochter Helene Massalska, die von ihrem Oheim, dem Fürstbischof Massalski von Wilna, nach Paris in die aristokratische Abbaye au Bois gebracht wurde, das Kloster an der Hand ihres ersten Gatten, des belgischen Fürsten de Ligne, verließ und in zweiter Ehe den Grafen Franz Potocki heiratete, mit dem sie gegen das Ende des ersten Kaiserreichs nach Paris zurückkehrte, wo sie 1818 starb. Das Tagebuch der kleinen, das Französische erst stammelnden Polin ist reizend und gewährt einen merkwürdigen Einblick in die damalige Erziehung der Töchter der vornehmen Familien und die Geschichte der leidenschaftlichen Frau, welche Lucien *Perey in zwei Bänden: "Histoire d'une grande dame, 1) La princesse Hélène de Ligne; 2) La comtesse Hélène Potocka" mit zahlreichen Belegen von Tagebuchstellen und Briefen erzählt. Schon um ihretwillen lesenswert, wird sie es doppelt wegen des geschichtlichen Rahmens, in dem sie sich bewegt: die französische Revolution, die polnischen Aufstände, der Hof Katharinas, Kaiserreich und Restauration. Zwei andre ebenso sympathische Frauengestalten ragen aus der Zeit Ludwigs XVI., Schiffbrüchige der Revolution, in unser Jahrhundert herüber. "Mme. de Custine" und "La comtesse Pauline de Beaumont", mit deren nähern Erlebnissen der ehemalige Unterrichtsminister Bardoux, ein Verehrer der Frauen der großen Epoche, der Verfasser der "Bourgeoisie française", uns (in zwei Bänden) bekannt macht. Ein ähnliches tragisches Geschick beraubte beide ganz jung ihrer Gatten, und beide liebten, ohne einander zu kennen, einen der grausamsten Egoisten, Chateaubriand, zuerst Frau de Custine, die sich über die Untreue ihres Dichters niemals trösten konnte, und dann Pauline de Beaumont, welche ihm nach Rom folgte und sich glücklich schätzte, dort sterben zu dürfen, ehe sich der Flatterhafte ganz von ihr abwandte.

Die Voltaire- und Rousseau-Forschung wurde durch zwei stattliche Beiträge der frühern Mitarbeiter, Gaston Maugras und Lucien Perey, bereichert: "Voltaire et Rousseau" von Gaston Maugras und "Voltaire aux Délices et à Ferney" von Lucien *Perey. Des Seltsamen und für die Charakterzeichnung Stendhals keineswegs Schmeichelhaften findet man viel in seinem Tagebuch ("Journal de Stendhal"), das zwei überschwengliche Verehrer des Verfassers der "Chartreuse de Parme", Stryenski und Fr. de Nyon, mit mehr gutem Willen als Takt aus den Stößen von Manuskripten zogen, die auf der Stadtbibliothek von Grenoble angehäuft sind. Henry Beyle zeigt sich darin als ein vollendeter Geck, der jeden Zug seines Gesichts, jedes Wort, das er sagen will, jede Bewegung, durch die er den Beifall der Frauen und den Neid der Männer zu erringen hofft, sorgfältig studiert und jeden Glauben an seine Aufrichtigkeit zerstört. Daneben enthält das Buch eine Fülle von Anekdoten und hilft die Werke Stendhals verstehen, welcher, halb verschollen, durch Paul Bourget wieder in die Mode gebracht wurde. Von hohem Wert für die Geschichtschreibung sind die eben erschienenen "Souvenirs sur la Révolution, l'Empire et la Restauration" des Generals Grafen von Rochechouart (mémoires inédites, publiées par son fils), während die "Lettres du maréchal de Tessé" an die Herzogin de Bourgogne, die Fürstin des Ursins, Frau v. Maintenon u. a., welche Graf de Rambuteau geordnet und herausgegeben hat, ein merkwürdiges Streiflicht auf die gesellschaftlichen Bräuche, die Gewohnheiten, die freie Ausdrucksweise in der Umgebung des Roi-Soleil werfen. Diese Briefe rühren aus der Zeit der militärischen und diplomatischen Sendungen des Marschalls de Tessé in Italien und Spanien her (1693-1714); der witzige Schreiber war jener galante und gewandte Hofmann, den die Herzogin von Bourgogne, Toch-^[folgende Seite]