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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Akklimatisation

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Akklimatisation (Widerstandsfähigkeit des Europäers in den Tropen).

peraturen führen ähnlich wie auch bei uns im Sommer zu Störungen bestimmter Organe und Organgruppen, besonders des Verdauungsapparats und der Haut. Man nimmt an, daß besonders Leberentzündung das Leben des Europäers gefährde, dem Eingebornen aber nur wenig schade. Nun starben von 1000 europäischen Soldaten in den beiden letzten Dezennien in Vorderindien und im Malaiischen Archipel an Leberentzündung jährlich 1-2 und erkrankten 20 bis 50, von eingebornen Soldaten starben 0,11-0,40, und es erkrankten 2-3. Wieweit hierbei Rasseneigentümlichkeit mitspricht, ist zweifelhaft, jedenfalls darf nicht vergessen werden, daß der Eingeborne den Genuß von Reizmitteln scheut, während der Europäer nur zu häufig dem Mißbrauch alkoholischer Getränke huldigt. Es ist konstatiert, daß die Häufigkeit von Leberentzündung bei den Eingebornen mit ihrer Enthaltsamkeit steigt und fällt, und ferner, daß die Sterblichkeit der Europäer an Leberentzündung seit Anfang dieses Jahrhunderts beständig abnimmt. Bemerkenswert ist auch, daß die Eingebornen, wenn sie an Leberentzündung erkranken, viel leichter sterben als die Europäer, und somit scheint auch hier die Rasseneigentümlichkeit, wenn überhaupt, nur eine ganz untergeordnete Rolle zu spielen.

Wie erwähnt, ergibt sich die Widerstandsfähigkeit des eingewanderten und zum dauernden Sommermenschen umgestalteten Europäers ganz bestimmt nicht geringer, vielmehr selbst etwas größer als die der eingebornen Rassen. Freilich hat die Anpassungsfähigkeit ihre Grenzen, und sie muß unterstützt werden durch peinlichste Vorsicht, durch die sorgfältigste Abhaltung aller das Widerstandsvermögen schwächenden Einflüsse, die konsequenteste Einhaltung und Befolgung aller hygienischen Maßregeln. Bis in die 60er Jahre lautete das Resultat aller vergleichenden Mortalitätsstatistik in den Tropen, sowohl in Südamerika als in Afrika, in Vorderindien wie auf dem Malaiischen Archipel, ungünstig für den eingewanderten Europäer. Es wurden erschreckende Zahlen angegeben und allgemein als zuverlässig angenommen, so daß der Satz von dem Unterliegen der fremden Rasse im Kampf ums Dasein als feststehend betrachtet wurde. Die neuern Zahlen der Armeestatistik haben nun aber ein durchaus abweichendes Resultat ergeben, und man muß heute annehmen, daß jene ungünstigen Zahlen nicht auf eine größere oder geringere, den Rassen zukommende Empfänglichkeit, sondern auf äußere Umstände zurückzuführen sind. Von den europäischen Soldaten der holländisch-ostindischen Armee starben 1819-28 während eines heftigen Krieges und unter dem Wüten der Cholera jährlich 170, von den Eingebornen 138 pro 1000. 1869-78 während des Atschinkriegs und schnell aufeinander folgender Cholera-Epidemien starben von europäischen Soldaten 60,4, von Eingebornen 38,7 pro 1000 und im letzten Dezennium 1879 bis 1888, obgleich Krieg und Cholera fortwüteten, von den Europäern 30,6, von den Eingebornen 40,7. Ähnliche Zahlen gibt die englische Statistik. In der Indian Army starben von europäischen Soldaten 1800 bis 1830: 84,6, 1830-56: 57,7 pro 1000, dagegen 1869-78: 19,34 und 1879-87 nur 16,27 pro 1000. Auch hier steht die Sterblichkeit der europäischen Soldaten zur Zeit hinter derjenigen der asiatischen Truppen weit zurück. Auf Jamaica starben 1820-36 nicht weniger als 121 europäische Soldaten, aber nur 30 Negersoldaten pro 1000, 1879-87 dagegen 11,02 Europäer und 11,62 Neger. Als 1864 während des amerikanischen Bürgerkriegs die Neger Louisianas, Virginias, Südcarolinas frei erklärt und der amerikanischen Armee einverleibt wurden, ergab sich die Sterblichkeit dieser den subtropischen Verhältnissen des Kriegsschauplatzes angepaßten Schwarzen im ersten Jahr fast fünfmal, 1865 fast dreimal und 1866 mehr als zweimal so groß wie die der weißen Amerikaner. Noch 1873-83, als die freien Schwarzen sich vollkommen ihren neuen sozialen Verhältnissen angepaßt hatten, übertraf ihre Sterblichkeit die der weißen Soldaten, und erst 1883-88 ist der Unterschied verschwunden.

Solche Wandlungen in der Sterblichkeit, wie sie die tropischen Armeen darbieten, können nun sicher nicht auf eine Umgestaltung der Rassen zurückgeführt werden. Man muß vielmehr annehmen, daß die Rassen dieselben geblieben sind, daß aber die äußern Verhältnisse sich geändert haben und nicht etwa durch Zufall, durch ein glückliches Geschick, sondern durch wohl überlegte hygienische Maßregeln bei der Wahl der auszusendenden Truppen, bei der Sorge für Trinkwasser, Nahrung, Kleidung, Wohnung und für die Erhaltung des harmonischen Zusammenwirkens aller Organe. Von diesen Maßregeln hat nun aber auch der allgemeine Gesundheitszustand in den Kolonien Nutzen gezogen. Es gibt tropische Länder und Städte, deren Bevölkerung, der Hauptsache nach aus Europäern und Kreolen oder aus gemischter Bevölkerung bestehend, eine allgemeine Sterblichkeit zeigt, wie sie auch in gemäßigten Zonen vorkommt. Das wegen seines mörderischen Klimas einst berüchtigte Tobago hatte 1884-88 eine mittlere jährliche Sterblichkeit von 19,1-27 pro 1000, das nicht weniger berüchtigte Jamaica eine solche von 22,2-24,2. In Holländisch-Guayana betrug die Sterblichkeit 1881-85: 27,4, auf Java und Madura, die als ungesund bekannt sind, betrug sie 1887: 32,8. Dem gegenüber betrug die Sterblichkeit in Ungarn in demselben Jahr 33,5, in Spanien 31,1. Die Mortalität Italiens ist höher als diejenige Surinams, und die Sterblichkeit Jamaicas kommt fast derjenigen Preußens gleich. Der mörderische Einfluß des Tropenklimas sinkt solchen Zahlen gegenüber zu einem Gespenst zusammen und erscheint besiegbar durch zweckmäßige hygienische Maßregeln.

Von größtem Belang ist das Verhalten des Europäers gegenüber den tropischen Infektionskrankheiten. Unter diesen steht die Malaria in erster Reihe. Während die tropischen und namentlich die schwarzen Rassen gegen dieselbe eine Art Immunität besitzen, soll sie für die Europäer eine wahre Geißel sein. Nun bieten aber in den letzten 25 Jahren die Weißen und die Farbigen der holländisch-ostindischen Armee so gut wie gar keinen Unterschied mit Bezug auf Erkrankung und Sterblichkeit an Malaria dar. In der englischen Armee Ostindiens erkranken die Eingebornen so gut an Malaria wie die Europäer, ihre Sterblichkeit ist aber unbedingt größer als die der letztern. In der Armee der Vereinigten Staaten litt und leidet der schwarze Soldat so oft und so intensiv an Malaria, daß in den amtlichen Berichten die relative Immunität der äthiopischen Rasse für Malaria durchaus abgeleugnet wird. Die Malariaepidemie auf Mauritius, welche seit etwa 1860 besteht, trifft am schlimmsten die eingeborne oder kreolische, farbige Bevölkerung, viel schwächer den eingewanderten Europäer. Die Erhebungen der portugiesischen Regierung von 1871 über die Verhältnisse auf den Kapverdischen Inseln, in Angola etc. gaben keinen Anhalt für die Lehre von der Immunität der äthiopischen Rasse. Gegenüber Typhoid steht sich der eingewanderte europäische Soldat etwas schlechter als der Eingeborne. In allen englischen Kolo-^[folgende Seite]