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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Belgien

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Belgien (Geschichte).

nahmen auf 331,352,202 Fr. und die Ausgaben auf 333,814,054 Fr. veranschlagt. Die Staatsschuld wurde auf 2233 Mill. Fr. geschätzt und erfordert für Verzinsung und Tilgung 81½ Mill. Fr.

Geschichte.

Die klerikale Mehrheit in den Kammern behauptete sich auch 1890 unerschütterlich in ihrer Herrschaft, und daher blieben auch die Minister im Besitz ihrer Stellungen, obwohl sie sich manche Blößen gaben. Sie wagten nicht, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, weil der größere Teil der Klerikalen dagegen war. Die liberalen Wallonen Bara und Neujean sowie der Radikale Janson suchten besonders den Nieterschen Fall gegen die Regierung auszubeuten. Nieter, ein hoher Beamter im auswärtigen Ministerium, hatte das Vertrauen seines Chefs, des Prinzen Chimay, gröblich mißbraucht, um französischen Preßagenten, namentlich dem aus Boulangers Prozeß berüchtigten Foucault de Mondion, offizielle Aktenstücke zu überliefern, unter denen sich auch ein Bericht des Generaldirektors Banning über Neutralität und Landesverteidigung in B. befand, der aus dem Büreau des Ministers Thonissen entwendet war; Nieter oder Mondion hatten mit den echten Aktenstücken gefälschte vermischt und sie um hohen Preis an die französische Regierung und die französische Presse verkauft. Die belgische Regierung hatte sich also betrugen lassen und war gegen den ungetreuen Beamten nicht sofort mit der nötigen Strenge eingeschritten. Statt nun Nieter zu verurteilen, setzten sich Bara und Janson mit ihm in Verbindung, letzterer trat sogar als sein Anwalt auf, und auf Grund der Nieterschen Mitteilungen griff die Opposition das Ministerium aufs heftigste an. Als es 29. April zur Abstimmung kam, fehlte ein Viertel der Liberalen, welche das Vorgehen Baras nicht billigten, und die Regierung erhielt von der großen Mehrheit ein Vertrauensvotum. Nieter wurde abgesetzt, der weitere Prozeß gegen ihn aber von der Kammer niedergeschlagen. Die Debatten über den Fall nahmen einen großen Teil der Zeit der Kammer in Anspruch. Die Beratung eines Gesetzentwurfs über die Prüfungen, welchen sich die Kandidaten des Doktorgrades unterziehen sollen, beschäftigte die Kammer wegen der Sprachenfrage in 30 Sitzungen. Daher wurde bis zum Schlusse der Kammersession (21. Mai 1890) im wesentlichen nur das Budget erledigt. Zur Beratung der Arbeitergesetzgebung, für welche Janson einen Entwurf über die obligatorische Unfallversicherung der Arbeiter vorgelegt hatte, gelangten die Kammern nicht.

Wenn die Liberalen gehofft hatten, durch ihre heftigen Angriffe auf das klerikale Ministerium bei den Wahlen Erfolge zu erzielen, so tauschten sie sich durchaus. Schon bei den Provinzialwahlen 25. Mai 1890 bewahrten die Klerikalen ihren Parteistand unverändert und gewannen bei den Stichwahlen noch einige Plätze hinzu. Bei den Kammerwahlen 10. Juni handelte es sich besonders um Gent, wo sieben Klerikale und ein Liberaler zur Neuwahl standen. Siegten die Liberalen diesmal, so hatten sie Aussicht, bei den nächsten Wahlen 1892 und 1894 wieder die Mehrheit zu erhalten. Doch unterlagen sie gleich im ersten Wahlgang mit 500 Stimmen, und dies Ergebnis war teilweise wohl darauf zurückzuführen, daß die Liberalen, fast durchweg Wallonen, sich gegen die vlämischen Ansprüche auf Gleichberechtigung stets so feindselig gezeigt hatten. In den wallonischen Bezirken eroberten die Liberalen zwei klerikale Sitze, so daß sie nun 44 Mitglieder gegen 94 Klerikale in der Kammer zählten. Damit war aber die Aussicht geschwunden, der klerikalen Herrschaft vor dem Schlusse des Jahrhunderts ein Ende zu machen. Trotz des hohen Wahlzensus hatten übrigens in drei Wahlbezirken die Sozialisten Kandidaten aufgestellt, die freilich nur sehr wenige Stimmen erhielten.

Schon Anfang Juli wurde eine außerordentliche Tagung der Kammern eröffnet und ihnen 9. Juli eine überraschende Mitteilung gemacht. Der Ministerpräsident Beernaert verlas nämlich ein Schreiben des Königs Leopold II. vom 5. Aug. 1889, in welchem derselbe mitteilte, daß er gemäß einem gleichfalls verlesenen Testament vom 2. Aug. den von ihm gegründeten Congostaat nach seinem Tode ohne jede Schadloshaltung B. vererbe, Auf Grund dieser Bestimmung wurde schon jetzt ein Vertrag zwischen B. und dem Congostaat 1. Juli 1890 abgeschlossen, nach welchem B. dem Congostaat ein zinsfreies Darlehn von 25 Mill. Fr., 5 Mill. sofort und dann zehn Jahre lang jährlich 2 Mill., vorstrecken, dafür aber das Recht erhalten solle, sich nach zehn Jahren den Congostaat einzuverleiben. Der weitblickende Patriotismus des Königs, der die kostspieligen Verbindlichkeiten der Gründung der Kolonie auf sich nahm, um die nun gesicherten Früchte seinem Lande abzutreten, steigerte seine Beliebtheit, die bei der Feier zum lebhaften Ausdruck kam, welche 21. Juli zur Erinnerung an die vor 60 Jahren errungene Unabhängigkeit Belgiens und, der Zeit um einige Monate vorgreifend, an die vor 25 Jahren erfolgte Thronbesteigung Leopolds II. veranstaltet wurde. Der Vertrag mit dem Congostaat wurde von beiden Kammern fast einstimmig genehmigt. Hierauf widmete sich die Kammer der Beratung des Gesetzentwurfs über die Errichtung einer vom König angeregten Unterstützungskasse für Arbeitsinvaliden u. des Jansonschen Entwurfs einer obligatorischen Arbeiterversicherung, vertagte sich aber Ende Juli schon wieder bis zum Oktober. Wie in Deutschland, so wurden auch in B. die Sozialisten durch die Regierungsvorlagen nicht befriedigt; ein vom Generalrat der sozialistischen Arbeiterpartei veröffentlichtes Programm stellte viel weitergehende Forderungen. Die erste war die Einführung des allgemeinen Stimmrechts, und für diese veranstalteten die Arbeiter 10. Aug. in Brüssel eine Kundgebung, welche durch Regen arg gestört wurde. Im Borinage und an andern Orten wurden Ausstände veranstaltet, um die Bedeutung des Arbeiterstandes kundzuthun, und 14. Sept. ein großer Kongreß aller Arbeitervereinigungen im Lande (400) in Brüssel abgehalten, auf dem beschlossen wurde, am Sonntag vor dem Wiederzusammentritt der Kammern Massenkundgebungen für das allgemeine Stimmrecht in allen Provinzialhauptstädten ins Werk zu setzen und einen allgemeinen Aufstand aller Gewerke herbeizuführen, um dem Beschluß Nachdruck zu geben. Dieser Beschluß kam indes nicht zur Ausführung. Eine Änderung des belgischen Wahlgesetzes und eine Erweiterung des Stimmrechts waren allerdings wünschenswert. Von dem allgemeinen geheimen Wahlrecht wollten aber die Liberalen gar nichts wissen, und auch die Radikalen wollten es anfangs auf diejenigen beschränken, die lesen und schreiben könnten, waren aber im übrigen zu Bündnissen mit den Sozialdemokraten für die Wahlen u. dgl. geneigt. In der Wintersession der Kammern, November 1890, stellte Janson auch einen Antrag auf Durchsicht der Verfassung behufs Änderung des Wahlrechts. Aber dieser Antrag war ganz allgemein gehalten, und seine Anbetrachtnahme wurde daher von allen Parteien beschlossen. Bei diesem Mangel an Einheit und Entschlossenheit bei