Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Bevölkerungsgeschichte

108

Bevölkerungsgeschichte (Aufgabe, Quellen und Methode).

Sollte die B. ihre Aufgabe ganz erfüllen, so müßte es möglich sein, sowohl den Stand als auch die Bewegung der Bevölkerung, d. h. der einzelnen Völker und der Völkersysteme, im ununterbrochenen geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen. Davon ist die heutige Forschung noch weit entfernt. Ja, es kann sogar wohl auch gesagt werden, daß die Forschung niemals dazu gelangen wird, dieser Aufgabe nach allen Richtungen gerecht zu werden. Denn in der Entwickelung der Menschheit und der Völker gibt es große Epochen, für welche alle jene Behelfe fehlen, welche zur bevölkerungsgeschichtlichen Erforschung notwendig sind, und vermutlich werden diese Lücken nie ausgefüllt werden. Es beschränkt sich daher die B. im allgemeinen darauf, den Gang der populationistischen Erscheinungen der Völker und Völkersysteme im großen und ganzen zu skizzieren und zu umschreiben, ohne dabei auf ziffermäßige Fixierungen allzu tief einzugehen. Aber auch hier sind gewisse Grenzen gezogen. So beginnt die Forschung im wesentlichen erst bei der griechisch-römischen Epoche. Weiter zurück liegen nur bruchstückweise Nachrichten, z. B. über die uralte Kultur der Chinesen oder über das Volk der Juden, vor. Aber auch während der antik-klassischen Zeit ist es nur ein begrenzter Erdstrich, nämlich die Gegend des Mittelmeers, über welche wir genauere Nachrichten besitzen, während über die übrigen europäischen, einige wenige asiatische und afrikanische Gegenden nur vage Vermutungen möglich sind und über die übrigen Teile Asiens und Afrikas sowie über Amerika und Australien begreiflicherweise die Nachrichten vollkommen fehlen. Übrigens ist diesbezüglich auch in der Folge bis heute noch die Kenntnis höchst lückenhaft. Die gesamte Zeit des Mittelalters bleibt bis in das 13. oder 14. Jahrh. hinein im großen und ganzen vom populationistischen Standpunkt auch bezüglich Europas ein dunkles Gebiet, das kaum durch ganz vereinzelte Notizen bevölkerungsgeschichtlich erhellt wird. Erst um die Wende des Mittelalters und der Neuzeit gelangen wir zu festern Anhaltspunkten, die anfangs sehr unvollständiger Natur sind, sich aber mit jedem Jahrhundert erweitern. Zunächst treten die städtischen Verhältnisse aus dem Dunkel in ein helleres Licht, dann erst folgen in viel weiterm Abstande die Daten über größere Landstriche oder ganze Völker. Mit der allgemeinen Einführung der Volkszählungen, etwa zu Beginn des 19. Jahrh., kommen wir endlich zu deutlichen Zahlenvorstellungen über die Völker Europas (ausschließlich einiger Gebiete, wie Rußland, Türkei), über Nordamerika und die meisten übrigen amerikanischen Staaten, über die Kolonien in allen Weltteilen und vereinzelte außereuropäische Völker mit einigermaßen europäischer Kultur, z. B. Ägypten. Der Umkreis der Erkenntnis ist somit, wenn wir Nordamerika und die Kolonien hinzufügen, eigentlich auf Europa und kulturell zugehörige Gebiete benachbarter Kontinente beschränkt. Abgesehen von diesem Mangel ist aber die B. auch insofern lückenhaft, als sie durchaus nicht im stande ist, die Phänomene aller Kategorien historisch zu erfassen. Sie ist vornehmlich nicht im stande, die Bewegungserscheinungen zu ermitteln, und auch von den Erscheinungen des Zustandes der Völker gelangt sie kaum zu etwas mehr als zur Feststellung der einfachen Volkszahl. Glücklicherweise ist aber damit auch die Hauptsache gegeben. Gemäß dem heutigen Zustande der B. beschränken sich also ihre zahlenmäßigen Resultate höchstens auf die Feststellung der Größe einzelner Völker, städtischer oder Staatsbevölkerungen zu einzelnen markanten Epochen der geschichtlichen Entwickelung.

Demzufolge kann sich auch die vorliegende Skizze nur darauf beziehen, einerseits die Entwickelung der Volkszahl der wichtigsten Kulturvölker seit der antik-klassischen Zeit bis auf unsre Tage im allgemeinen zu umschreiben und anderseits für einige wichtigere Epochen Zahlenbelege beizubringen. Als solche sollen vorwiegend die Verhältnisse der griechisch-römischen Welt, der alten und mittelalterlichen deutschen Städte und des französischen Volkes seit den Zeiten der Gallier gelten. Zuvor aber ist es erforderlich, die Hilfsmittel der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung zur Sprache zu bringen.

I. Quellen und Methode.

Die vollkommenste Art der Ermittelung der Größe eines Volkes oder eines Teiles desselben ist die Zählung, in deren Wesen es liegt, daß jedes einzelne Individuum zur Verzeichnung gelangt, und daß die Absicht der Vornahme einer solchen Operation direkt auf die Erfassung der Volkszahl abzielt. Sie ist stets eine von der Obrigkeit ausgehende Maßregel. Im Effekt stimmen mit der eigentlichen Zählung solche Maßnahmen überein, welche eine Verzeichnung aus irgend einem speziellen administrativen Grunde darstellen, wenn diese auch alle Individuen umfaßt, wie z. B. die Anlegung der Heberollen der allgemeinen Personalsteuer, des Peterspfennigs im Mittelalter etc. Die ältesten Volkszählungen sind wohl jene in China und jene der Juden, von denen die Bibel berichtet, dann die ägyptischen, welche durch die jüngste Forschung bekannt wurden. Was die antik-klassische Zeit anbelangt, so haben wir Nachrichten von einer Volkszählung des Demetrios von Phaleron, welche in Athen in der Zeit zwischen 317 und 307 v. Chr. vorgenommen wurde und sich zwar auf alle Gesellschaftsklassen, aber nur auf die Männer und vermutlich nur auf die rechtliche, d. h. staatszugehörige, Bevölkerung erstreckte. Über etwanige sonstige gleichzeitige oder spätere Volkszählungen der griechischen Zeit fehlen Nachrichten, wohl aber ist bekannt, daß solche in der hellenistischen Zeit in den Großstaaten vorgenommen und auf die Gesamtbevölkerung ausgedehnt wurden; es ist dies dieselbe Epoche, in welche auch die Ausbildung des römischen Zensus fällt: der wichtigsten Quelle für die Erkenntnis der Bevölkerungsverhältnisse in den Mittelmeerländern zur ersten römischen Kaiserzeit. Dieser Zensus verband mit dem Zweck der Volkszählung jenen der Vermögenseinschätzung und reicht in eine sehr frühe Zeit zurück (Servius Tullius). Eine eigne Behörde hierfür, die Zensoren, wurde im J. 443 v. Chr. eingesetzt. Die Perioden der Einschätzung, des Lustrums, sind sehr ungleichmäßig. Man unterscheidet einerseits den republikanischen Zensus und seinen Nachfolger, den kaiserlichen Zensus, welcher die römischen Bürger umfaßte, und anderseits den Provinzialzensus, welcher seit dem 3. Jahrh. v. Chr. vorgenommen wurde. Ähnliche Einrichtungen wurden auch auf die Bundesgenossen etc. übertragen. Verzeichnet wurde jeder Selbständige mit den Familiengliedern und dem Vermögen, wozu auch die Sklaven gehörten. Der letzte Zensus der Republik wurde in den Jahren 70-69 v. Chr. und der erste in der Kaiserzeit von August 28 v. Chr. durchgeführt. Derselbe Monarch ordnete noch Zählungen in den Jahren 8 v. Chr. und 14 n. Chr. an, während der letzte italische Zensus unter Vespasian 72 n. Chr. abgehalten wurde. Nun dauert es wohl an 1½ Tausend Jahre, ehe Nachrichten über Volkszählungen von neuem vorliegen. Erst nach der Reformation,