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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ebbe und Flut

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Ebbe und Flut (im Atlantischen Ozean).

von Bewegungshindernissen wird meistens eine freie Welle vorhanden sein, welche mit der gezwungenen gleiche Periode hat, deren Länge aber eine andre ist und in einem bestimmten, von der Tiefe des Wassers abhängigen Verhältnis zu der Periode steht, deren Höhe gleichfalls von äußern Umständen abhängt. Diese Welle ist in ihrem Fortschreiten nicht mehr durch die erzeugende Kraft bedingt, hört auch nicht auf zu existieren, wenn die Kräfte aufhören, sondern unterliegt nur dem Einfluß der Reibung, wodurch sie bald verlöscht. Diese Wellen werden freie Flutwellen oder sekundäre genannt, und sie sind es, welche man an den Küsten des Ozeans und in Flüssen beobachtet.

Neuerdings hat nun Börgen den Versuch gemacht, auf Grund von Airys Wellentheorie die Eintrittszeiten der Hochwasser in ihrer Abhängigkeit vom Bodenrelief des Atlantischen Ozeans zu erklären. Die Voraussetzung der Wellentheorie ist die, daß das Wasser sich in Kanälen befindet, deren verschiedene Gestaltung die in ihnen erzeugten Wellen in verschiedener Weise beeinflußt. In einem rings um die Erde sich erstreckenden Kanal von überall gleichmäßiger Tiefe und Breite werden Flutwellen nur als gezwungene Wellen auftreten. Wo aber irgend ein Hindernis ihrer Fortpflanzung entgegentritt, da wird die bis dahin gezwungene Welle ihren Weg als freie Welle fortsetzen. Diese Wellen werden ebenfalls wie die gezwungenen sowohl nach der Längsrichtung als nach der Richtung der Breite des Ozeans vorhanden sein. Da aber die Höhe der gezwungenen Flutwellen der Tiefe des Wassers direkt proportional ist, so sieht man, daß dieselben in der Nähe der Küsten verschwinden und dort nur die freien Wellen zur Geltung kommen werden, welche umgekehrt gerade im flachen Wasser zur höhern Entwickelung gelangen; im tiefen Ozean werden sich dagegen neben diesen letztern auch die gezwungenen Wellen geltend machen. Wenn nun auf einer in horizontaler Richtung ausgedehnten Wasserfläche mehrere sich kreuzende Systeme von Wellen existieren, so treten Interferenzen auf, durch welche bewirkt wird, daß die Linien gleicher Hochwasserzeit oder die Flutstundenlinien nicht mehr in einfacher Beziehung zu den erzeugenden Wassersystemen stehen, so daß man nicht unmittelbar aus dem Verlauf der Flutstundenlinien einen Schluß auf den Verlauf der Wellen ziehen kann. Wenn nicht mehr als zwei Systeme von Wellen vorhanden sind, so verlaufen die Flutstundenlinien in diesem Falle nicht mehr geradlinig, sondern erhalten wellenförmige Einbuchtungen. Die zu einer bestimmten Stunde gehörige Linie verläuft in der Richtung, nach welcher sich die kleinere der beiden Wellen fortpflanzt, und der lineare Abstand zweier gleichartig liegender Punkte derselben, die in der Richtung der Fortpflanzung dieser kleinern Welle liegen, ist gleich der Länge oder dem ganzen Vielfachen der Länge der kleinern Welle. Kann man also den Verlauf der Flutstundenlinien genau nachweisen, so darf man annehmen, daß die kleine Welle sich annähernd nach der Richtung dieser Linien fortpflanzt. Aus dem Umstand, daß die Flutstundenlinien sich quer über den Atlantic erstrecken, kann man also schließen, daß das kleinere der auf demselben bestehenden Wellensysteme sich in der Richtung Ostwesten fortpflanzt. Die Breite des Ozeans ist aber zu gering, d. h. kleiner als eine Wellenlänge, um die volle Ausbildung der Flutstundenlinien zu gestatten, so daß man keine homologen Punkte aufsuchen kann, um daran die Wellenlänge zu prüfen. Ferner ist der Abstand zweier Punkte auf zwei verschiedenen Flutstundenlinien, die zu Zeiten gehören, welche um die Periode der Welle voneinander abweichen, und die in der Richtung der Fortpflanzung der größern Welle liegen, gleich der Länge der größern Welle. Findet man also auf zwei solchen Flutstundenlinien zwei Punkte, deren Abstand der aus der mittlern Tiefe berechneten Wellenlänge gleich ist, so kann man schließen, daß dies die Richtung des Fortschreitens des größern der beiden Wellensysteme ist. Es kommt also darauf an, zwei Orte aufzusuchen, an welchen die beobachteten Hafenzeiten um die Periode der Flutwellen (τ = 12^{h} 25^{m} gesetzt) voneinander verschieden sind, dann ist die mittlere Tiefe p des Wassers zu ermitteln, daraus nach der Formel λ = τ sqrt (2 gp) die dieser Tiefe entsprechende Wellenlänge zu berechnen und diese mit der Entfernung beider Orte auf dem größten Kreise zu vergleichen. Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die von Börgen ausgeführte Rechnung.

Stationen Hafenzeit in Greenwichzeit D = Abstand Mittl. Tiefe p zwischen beiden Wellenlänge λ = τ sqrt (2 gp) Differenz D-λ

Kilom. Meter Kilom. Kilom.

1) Kapstadt 1^{h} 27^{m} 12672 4095 8960 +3712

- St. Augustine (Florida) 1:47

2) Sta. Catharina (Brasil.) 5^{h} 59^{m} 10184 3967 8819 +1365

- St. Kilda (w. von d. Hebr.) 6:4

3) Jericoacoara (Brasilien) 7^{h} 57^{m} 7518 3781 8610 -1092

- Kap Wrath (Schottland) 7:50

4) Kapstadt 1^{h} 27^{m} 7913 4086 8950 -1037

- Ferro 1: 42

5) St. Helena 3^{h} 31^{m} 7168 4031 8890 -1722

- Ouessantinsel (vor Brest). 3:52

Das erste Beispiel zeigt eine so große Differenz zwischen D und λ, daß in dieser Richtung sich die Flutwelle nicht über den Ozean bewegen kann. Im zweiten Falle ist die wirkliche Entfernung der beiden Orte um ein Siebentel größer als die berechnete Wellenlänge. Man kann nun annehmen, daß die der brasilischen Küste vorgelagerte Bank die Flutwelle verzögert, so daß im tiefen Ozean die Flutstundenlinie von 5^{h} 59^{m} jedenfalls erheblich nördlicher liegt als bei Sta. Catharina; ebenso würden auch die Grunde vor Irland wirken, daher die Distanz, im tiefern Wasser gemessen, jedenfalls der berechneten Wellenlänge λ näher kommen würde. Hierdurch gewinnt die Annahme, daß das Hauptsystem der atlantischen Flutwellen sich von S. nach N. fortpflanzt, an Wahrscheinlichkeit, denn auch bei diesen wirken die flachen Küstenbänke im allgemeinen verzögernd.

Bei der Erklärung der Einzelerscheinungen sind nun die Wassertiefen in ihrer Rückwirkung auf den Lauf der Wellen zu berücksichtigen, denn die Geschwindigkeit solcher Wellen, deren Länge im Vergleich zur Wassertiefe groß ist, ist der Quadratwurzel aus der Wassertiefe direkt proportional. Danach lassen sich die Hafenzeiten im Nordatlantic folgendermaßen erklären. Die Welle, welche bei ihrem Fortschreiten nach N. durch die Enge zwischen Afrika und Brasilien in den nördlichen Teil des Atlantic tritt, hat zwei tiefere Längsmulden vor sich, die Kapverdenrinne im O. und die Brasilische Rinne, welche zur westindischen Tiefe führt, im W. Letztere läßt