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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Festungen u. Festungskrieg

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Festungen und Festungskrieg (neuere Grundsätze).

Festungen u. Festungskrieg (hierzu Karte »Grenzbefestigungen von Frankreich-Deutschland-Rußland«). Die Ansichten über den Wert der Festungen sowie über das Verfahren beim Festungsangriff gehen bekanntlich sehr weit auseinander, weil wichtige taktische und artilleristische Fragen bislang noch nicht zum Abschluß gebracht sind und überhaupt erst nach einem neuen großen Kriege zum Abschluß gebracht werden können. Insbesondere sind die Ansichten über die zweckmäßigste Verwendung der Truppen in der Schlacht geteilt. Der eine will den Gegner noch heute durch den Stoß der geschlossenen Infanterie- und Kavalleriemassen, das Salvenfeuer der aufmarschierten Bataillone sowie der möglichst nahe an den Feind zu führenden Batterien niederwerfen, der andre dagegen diesen Zweck durch sprungweise vorwärtsstürmende aufgelöste Linien erreichen, welche sich besser gegen das vernichtende Feuer des Gegners zu schützen sowie die eignen Waffen in vollem Maße auszunützen vermögen und zwar mit Unterstützung der in gedeckten Stellungen außerhalb der Tragweite des Infanteriegewehrs feuernden Batterien, während man sich von der Mitwirkung der Kavallerie in offener Feldschlacht nur geringe Erfolge verspricht. Einerseits geht man dabei von der Voraussetzung aus, daß vor dem entschiedenen Willen ein moralisch schwächerer Gegner zurückweichen muß, und daß eine stetige Vorwärtsbewegung gegen den Feind den Stoß der Massen und somit die blanken Waffen zur Wirkung bringen soll. Namentlich vertritt die ältere preußische Schule derartige Ansichten, vor allem aber auch sind es hervorragende russische Generale, welche trotz der vernichtenden Wirkung der modernen Gewehre und Geschütze den blanken Waffen die Entscheidung überlassen wollen. So schreibt z. B. der General Dragomirow, Chef der Akademie des russischen Generalstabs: »Das Feuer dient nur zur Vorbereitung des Stoßes, da aber keine bessere Vorbereitung denkbar ist als unerwartetes Auftreten, so ist es schädlich, mit Feuern Zeit zu verlieren.... Der Führer muß mit Kopf und Herz es sich vornehmen, die Attacke bis zu Ende zu führen, was es auch kosten möge, ohne zurückzublicken, dieselbe Entschlossenheit seinen Untergebenen einzuflößen verstehen, ein Zurückbleiben einzelner nicht dulden, zur Erreichung dieses Zweckes jedes Mittel gebrauchen (d. h. rücksichtslose Offiziere auch hinter der Fronte). Man darf nicht hoffen, daß der Feind vor dem Handgemenge Kehrt macht, muß vielmehr erwarten, daß es zum Bajonettkampf, Mann gegen Mann, kommt, und muß dieses nur wünschen. Beim plötzlichen Erscheinen des Feindes stürzt sich die Angriffskolonne mit dem Bajonett auf den Feind; Salven werden nur ganz ausnahmsweise abgegeben.« Wir haben diese Aussprüche hier angeführt, weil vielfach behauptet wird, daß eine Ausbildung der Infanterie im Bajonettkampf überflüssig sei.

Andre Taktiker glauben dagegen, daß das Schnellfeuer der hinter natürlichen oder künstlichen Deckungen, ja selbst auf ebenem Gelände liegenden Schützenmassen jede geschlossene Angriffskolonne auf Entfernungen von 300-400 m vernichten wird, und daß daher auf jede schematische Ordnung beim Angriff Verzicht zu leisten ist. In der That sollte man glauben, daß derartige Anschauungen die richtigern sind, wenn man die Wirkung der neuen Kastenmagazingewehre und ihrer 3-4 hintereinander stehende Leute durchschlagenden Geschosse sowie deren rasante Flugbahn beobachtet, und wenn man nicht außer acht läßt, daß eine kriegsstarke Infanteriekompanie auf den Schießplätzen bei Entfernungen bis zu 1000-1200 m eine größere Zahl von Treffern erzielt wie eine Batterie von 6 Feldgeschützen. Eine rücksichtslose Offensive ist daher wohl bei einem undisziplinierten, moralisch schwachen Gegner, nie und nimmer aber bei einem gleichwertigen Feinde angebracht. Für den Krieg können nun einmal allgemein gültige Regeln nicht gegeben werden, der Ort, wo man kämpft, die Zeit, wann man kämpft, und der Feind, welcher zu bekämpfen ist, werden stets für die zu wählende Fechtart entscheidend sein. Hüten soll man sich nur vor Unterschätzung des Gegners und Überschätzung seiner eignen Kräfte, in welchen Fehler sowohl Soldaten als Bürger großer Reiche nach glücklichen Kriegen so leicht verfallen. Unter den heutigen Verhältnissen sind alle großen Armeen von dem Bestreben geleitet, sich von keiner der andern durch irgend welche Fortschritte im Militärwesen überholen zu lassen. Von Ausnahmen abgesehen, darf man daher für den nächsten Krieg beim ersten Zusammenstoß die beiderseitigen Streitkräfte als im allgemeinen gleichwertig voraussetzen.

Wie in der Waffentaktik, so sind auch in der Taktik des Festungskriegs ähnliche Gegensätze vorhanden. Einerseits will man beim Angriff die rücksichtsloseste Offensive walten lassen und stützt sich auf die angeblichen Erfolge, welche man bei den vielfach nicht kriegsgemäß angelegten und durchgeführten artilleristischen Schießversuchen erzielt hat. Die in manchen Armeen von Tag zu Tag an Einfluß gewinnenden militärtechnischen Dilettanten glauben vielfach, daß es möglich ist, ein etwa 24 Stunden hindurch mit Brisanzgranaten beschossenes Festungswerk über das freie Feld hinweg bei hellem Tage zu erstürmen. Um nun einigermaßen sichere Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, ob solche Ansichten die richtigen sind, hat man in neuester Zeit wirklich kriegsgemäß angelegte und durchgeführte Belagerungsübungen veranstaltet, deren Verlauf ergeben haben soll, daß die von den Artilleristen der betreffenden Staaten so warm empfohlenen neuen Brisanzgeschosse zwar große Verwüstungen in anhaltend beschossenen Festungswerken älterer Art anzurichten vermögen, daß die angegriffenen Werke aber keineswegs in so kurzer Zeit verteidigungsunfähig gemacht werden können. Anderseits ist nicht zu verkennen, daß die bis zu 10,000 m und darüber reichenden schweren Geschosse, ihre Trefffähigkeit und große Wirkung den Wert der kleinen, nach allen Seiten zu überschießenden Festungen außerordentlich herabgedrückt haben. Verfügt der Angreifer insbesondere über ausreichende Geschütze nebst Munition (was im J. 1870 vor Straßburg, Belfort und Paris bei Beginn der Belagerung keineswegs der Fall war), befindet sich ferner in der eingeschlossenen Festung eine zahlreiche Zivilbevölkerung, welche gegen ein Bombardement aus den modernen schweren Geschützen nicht gesichert werden kann und unter allen Umständen auf die Festungsbesatzung einen ungünstigen moralischen Einfluß ausüben wird, so ist nicht zu verkennen, daß unter schwierigen Verhältnissen der Widerstand eines derartigen Waffenplatzes nur nach Wochen, ja Tagen berechnet werden kann.

Aus diesen von verschiedenen Seiten schon seit dem Jahre 1871 geltend gemachten Gründen ist in der Regel den engen Umwallungen der ältern Festungsstädte nicht nur jeder militärische Wert abzusprechen, sondern es erscheint die Ansicht nicht unberechtigt zu sein, daß derartige enge Umwallungen die Interessen der Verteidigung geradezu gefährden, und man hat sich daher in allerneuester Zeit in ver-^[folgende Seite]