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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur der Schweiz

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Französische Litteratur der Schweiz.

lenforschungen anstellen und dann ebenfalls ein Werk über das Leben Jesu schreiben zu können. Dasselbe trägt den Titel »Jésus-Christ« und enthält in zwei Bänden unendlich viel Material, rein wissenschaftliches und polemisches, Schilderungen aus Palästina, Zugeständnisse an die moderne Zeitrichtung in untergeordneten Dingen, was aber nicht hindert, daß er den Evangelien göttlichen Ursprung zuschreibt und sie für ausschließliches Eigentum der katholischen Kirche erklärt. Ebenfalls auf die Vertrautheit mit der deutschen Sprache ist »La jeunesse de Frédéric II« des Sorbonnne-Professors ^[richtig: Sorbonne-Professors] Lavisse gebaut, bei dem sich die lebhafte Darstellung zu der geschickten Verwertung der Quellen gesellt Ein lange erwartetes Ereignis, die Veröffentlichung der Memoiren des Fürsten de Talleyrand, soll sich nächstens erfüllen; nach allerlei Irrfahrten der Handschrift und dem Tode ihrer Inhaber wurde der Herzog von Broglie damit betraut. Inzwischen setzt G. Pallain seine Studien über die diplomatische Korrespondenz Talleyrands fort. Sein letzter, dritter Band: »Le ministère de Talleyrand sous le Directoire« (mit Einleitung und Noten), umfaßt zwei Jahre, Juli 1797 bis Juli 1799, und enthält viel Neues in 700 Depeschen und Berichten, so z. B. eine Darlegung der Ansichten Talleyrands über Handel und Kolonialwesen. Gleichzeitig bietet die Gräfin de Mirabeau in »Le prince de Talleyrand et la maison d'Orléans« eine Sammlung von Briefen Ludwig Philipps, seiner Schwester Madame Adélaide und Talleyrands, welche sie in dem Nachlaß ihres Onkels, Herrn de Bacourt, ehemaligen ersten Sekretärs des Fürsten, in dessen Gewahrsam auch die »Memoiren« waren, gefunden hatte. Des Interessanten und bisher Unbekannten viel bergen folgende Veröffentlichungen: »Villars, d'après sa correspondance et des documents inédits«, herausgegeben von dem Marquis de Vogüé; »La diplomatie française et la succession d'Espagne« von Pichon; »Philippe V et la cour de France« von Alfred Baudrillart (nach ungedruckten Dokumenten, 1. Bd.); »Recueil des instructions données aux ministres de France, tome VIII« (Russie), mit Einleitungen und Noten von Alfred Rambaud; »L'Europe et l'avénement du second Empire« von Rothan. In all diesen Werken gelangt neben dem reichen Material als Zugabe eine reine litterarische Form zur Geltung, bei dem Diplomaten Rothan wie bei dem Sorbonne-Professor Rambaud und dem Aristokraten de Vogüé, welcher den Marschall de Villars, den unmenschlichen Helden der Dragonaden, als romantischen Ritter zeigt und in dem Abschnitt über Frau von Maintenon und den Cevennenkrieg unerwartete Gesichtspunkte eröffnet. Vorwiegend akademisch sind hingegen die Aufsätze Jules Simons über Henri Martin, Michelet, Mignet sowie die »Études d'un autre temps« von Bardoux, der »Prince de Ligne et ses contemporains« (Joseph Chénier, Chamfort, Abbé Sieyès u. a.) von Victor du Bled und auch Lucien Pereys »Le dernier neveu de Mazarin«. Von André Lebon, Professor an der École des sciences politiques, sind »Études sur l'Allemagne politique« erschienen, von René Bazin, einem Mitarbeiter der »Débats«, Reiseschilderungen aus Italien, »A l'aventure, croquis italiens«, deren Wert in einer gewissenhaften und anschaulichen Schilderung der heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände liegt, von Jean Revel, dem Verfasser eines wunderlichen Reisewerks: »Chez nos ancêtres«, welches Kleinasien und Ägypten in pessimistischen, unehrerbietigen Zügen schildert, noch »Testament d'un moderne«, philosophische Betrachtungen, Wissenschaftliches, Gedanken andrer, bunt durcheinander, manchmal fesselnd, dann wieder durch das Sprunghafte ermüdend. Der chinesische Militärbevollmächtigte in Paris und London, General Tscheng-Ki-Tong, kann den Abendländern nicht genug die Tugendhaftigkeit und Vollkommenheit seiner Landsleute als nachahmenswertes Beispiel vorhalten. Er thut dies neuerdings in seinen »Plaisirs en Chine« und in dem »Roman de l'homme jaune«, der als Roman in Handlung und seelischer Analyse sehr schwach wäre, aber sich als ethnographisches und Sittenbild im ganzen angenehm liest, obwohl das aufdringlich Lehrhafte und Prahlhafte stellenweise den Genuß schmälert. Aus dem äußersten Osten kommt man mit Pierre Loti herzlich gern »Au Maroc« zurück und mit Guy de Maupassant, der auf seiner eignen Jacht segelt, nach Italien, längs dessen mittelländische Küste der Romanschriftsteller den Stoff zu seinem anziehenden Bande: »La vie errante« sammelte. Die Nachtseite des englischen Lebens beschäftigt Hector France, der in England seinen Wohnsitz hat, in »Police-Court, mœurs anglaises«, einer Fortsetzung seiner bisherigen Sittenstudien: »Les va-nu-pieds de Londres«, »Les nuits de Londres«, »L'armée de John Bull«.

[Zur Litteratur.] Birch-Hirschfeld, Geschichte der französischen Litteratur seit Anfang des 16. Jahrhunderte (Stuttg. 1889, Bd. 1); Juncker, Grundriß der Geschichte der französischen Litteratur (Münst. 1889); Tiersot, »Histoire de la chanson populaire en France« (Par. 1889); Sarrazin, Das moderne Drama der Franzosen (Stuttg. 1888). Eine Umarbeitung von Kreyssigs »Geschichte der französischen Nationallitteratur« besorgten Kreßner und Sarrazin (6. Aufl., Berl. 1889, 2 Bde.). Die Geschichte der französischen Litteratur in der Schweiz wurde von Philippe Godet, nach andern Gesichtspunkten von V. Rossel dargestellt (s. den folgenden Artikel).

Die französische Litteratur der Schweiz.

Die französische Schweiz, auch romanische Schweiz genannt, umfaßt den westlichen Teil des Schweizer Landes und zwar die protestantischen Kantone Gens, Waadt und Neuchâtel sowie die halb deutschen, halb französischen katholischen Kantone Freiburg und Wallis; auch ein Teil von Bern, der Juradistrikt, hat französisch redende Bevölkerung. Schon zur Zeit der römischen Herrschaft bestand eine Trennung dieser Länder von dem Nordosten; denn um 450 hatten sich die christlichen Burgunder hier niedergelassen, welche römische Kultur zu schätzen wußten und mit den alten Einwohnern allmählich zu einem Volke mit romanischen Sitten und romanischer Sprache verschmolzen. Diese hat allerdings litterarische Bedeutung nie besessen und mußte bald der französischen Sprache weichen, die seit dem 13. Jahrh. ausschließlich Amts- und Schriftsprache wurde; sie blieb aber noch lange die Sprache des platten Landes (patois romand) und existiert litterarisch eigentlich nur in einigen Versionen des berühmten Kuhreigens (ranz des vaches); vgl. Huber, Recueil des ranz des vaches (St. Gall. 1830). Trotz der gemeinsamen Sitten und Sprache hat jedoch politische Einheit unter ihnen nie bestanden, sie gehörten lange verschiedenen Herrschaftsgebieten an und haben es an Eifersüchteleien und Feindseligkeiten untereinander nicht fehlen lassen. Erst seit der Gründung des Bundes macht sich hin und wieder nationales Bewußtsein geltend, und erst seit dieser Zeit datieren patriotische Männer in der französischen Schweiz die Anfänge einer Natio-^[folgende Seite]