Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Grippe

380

Grippe (Morbidität und Mortalität, Krankheitsbild).

Beobachtungen übereinstimmend gelehrt: dieselben sind zu jeder Jahreszeit, unter jedem Himmelsstrich, in hoch gelegenen Gegenden wie in Niederungen, mitten auf dem Kontinent und auf Schiffen auf hoher See aufgetreten. Dagegen scheinen die Witterungsverhältnisse Einfluß auf das mehr oder weniger häufige Erkranken gewisser Personen zu haben. In dem Bericht über die Grippe-Epidemie im deutschen Heere wird das häufigere Erkranken der Rekruten und des Ausbildungspersonals derselben den Witterungseinflüssen schuld gegeben. Von den Grippekranken in Köln kamen 19,4 Proz. auf das israelitische Krankenhaus, 18 Proz. auf die städtische Irrenanstalt, 14 Proz. auf die Gefangenenanstalt, 19 Proz. auf die Straßenbahngesellschaft, 42 Proz. auf die Ärzte, 30,8 Proz. auf die Schulkinder und 4,2-5 Proz. auf die Arbeiter von zwei Fabriken. Alles dieses spricht jedoch mehr für Kontagiosität der Krankheit als für Witterungseinflüsse. Welcher Prozentsatz der Bevölkerung ergriffen wurde, ist, solange die Ergebnisse der über die letzte Epidemie ins Werk gesetzten Sammelforschung noch nicht bekannt sind, schwer abzuschätzen; in Köln wurden 70,000 Grippefälle gezählt, was einer Erkrankungsziffer von 20 Proz. der Einwohnerschaft entsprechen würde. Von den deutschen Heeren (einschließlich Marine) sind insgesamt 55,263 Mann an G. erkrankt; davon entfallen auf Gardekorps und 1.-15. Armeekorps 45,100 Mann = 105,8 pro Mille der Kopfstärke. Im 1. bayrischen Armeekorps erkrankten 5438 Mann = 208,9 pro Mille, im 2. bayrischen Armeekorps 4248 Mann = 195,2 pro Mille der Kopfstärke.

Über die Zahl der Erkrankungsfälle in den einzelnen Gegenden Deutschlands mag diejenige, welche im Heere beobachtet worden ist, ein auch für die bürgerliche Bevölkerung ziemlich richtiges Bild geben, da eine wesentliche Verschiedenheit in den Erkrankungsziffern wohl kaum bemerkbar gewesen sein dürfte und das vom Heere gewonnene statistische Material den Vorzug absoluter Zuverlässigkeit besitzt. Es geht aus der Mortalitätsstatistik die bemerkenswerte Thatsache hervor, daß der Südwesten Deutschlands erheblich mehr durchseucht wurde als alle übrigen Teile des Reiches. Näheres ergibt die der unten citierten offiziellen Schrift entnommene Karte (S. 379), welche die Zahl der Erkrankungen in den einzelnen Armeekorps zur Anschauung bringt.

Die G. gilt als ziemlich ungefährliche Krankheit, und sie genoß besonders im Beginn der letzten Epidemie noch diesen Ruf. Betrachtet man nur die reinen Grippeformen, so wird die Krankheit auch jetzt noch als sehr ungefährlich zu bezeichnen sein: von den 55,263 Erkrankten des deutschen Heeres (einschließlich Marine) starben 60 = 0,1 Proz. der Erkrankten. Doch ist hierbei zu bedenken, daß eine relativ hohe Mortalität durch die Mit- und Nachkrankheiten, insbesondere Lungenentzündung, hervorgerufen wurde, sowie daß die G. besonders durch Schaffung einer besondern Disposition zu andern schweren Krankheiten gefährlich wurde, und in diesem Sinne läßt sich aus der Einwirkung der G. auf die Gesamtsterblichkeit ein besseres Urteil über ihre Gefährlichkeit gewinnen, als wenn die Mortalität der Krankheit für sich allein ins Auge gefaßt wird. Die folgende Tabelle gibt die Sterblichkeit, auf Kopf und Jahr berechnet, in den größern Städten Deutschlands nach den Veröffentlichungen des kaiserlichen Gesundheitsamtes vor und während der Grippe-Epidemie (November einerseits und Dezember und Januar anderseits) an.

Sterblichkeit auf 1000 Einwohner.

Ort im November in der Woche bis

7. Dez. 14. Dez. 21. Dez. 28. Dez. 4. Jan. 11. Jan.

Danzig 20,4 27,5 27,0 47,5 61,0 52,2 34,1

Kiel 25,9 21,7 33,5 42,5 69,6 36,1 39,6

Berlin 18,7 20,6 27,2 32,4 37,7 32,1 26,2

Königsberg i. Pr. 23,9 25,3 29,2 27,2 27,2 41,1 39,2

Posen 25,6 29,6 22,2 33,3 32,6 46,3 44,9

Breslau 23,1 24,5 27,9 24,1 24,8 28,4 26,8

Stettin 27,1 32,2 30,2 34,6 35,1 46,8 42,4

Hannover 18,1 21,2 20,5 21,9 25,9 38,2 35,8

Frankfurt a. M. 15,1 22,1 16,8 19,6 27,4 41,4 39,0

Elbing 29,1 28,6 - 22,2 36,4 60,3 61,6

Magdeburg 20,4 22,5 25,2 27,2 27,8 - 53,4

Hamburg 19,7 20,6 25,1 26,9 26,9 31,6 32,1

Köln 18,9 24,7 23,7 24,5 29,5 51,0 52,2

Die entsprechenden Verhältnisse im Heere zeigt folgende Tabelle:

Morbidität und Mortalität im 1.-15. Armeekorps in den Monaten November bis März 1888/89 und 1889/90.

Monat und Jahr Krankenzugang Es starben

in Summa auf Tausend absolute Zahl pro Mille Kranke

November 1888 25830 64,0 53 0,14

1889 26204 64,4 55 0,14

Dezember 1888 22874 54,3 49 0,12

1889 39651 94,0 98 0,23

Januar 1889 34409 81,3 64 0,15

1890 69844 165,0 130 0,31

Februar 1889 33517 79,2 75 0,18

1890 35783 84,6 94 0,23

März 1889 36113 85,2 93 0,22

1890 34842 82,1 103 0,24

Auch hier zeigt sich also in den Grippemonaten ein Anwachsen der Gesamtmortalität auf ungefähr das Doppelte gegen dieselben Monate des Vorjahrs.

Das Krankheitsbild der G. ist nichts weniger als charakteristisch; im Gegenteil, es gibt wohl keine Infektionskrankheit, welche durch solche Vielgestaltigkeit der Erscheinungen ausgezeichnet wäre wie sie; so läßt sich eine Beschreibung derselben nur geben, wenn man eine große Menge von Fällen zusammen überblickt. Die Krankheit kann alle Organsysteme befallen, die Keime scheinen in alle eindringen zu können und wählen sich bei jedem Individuum den Ort der geringsten Widerstandsfähigkeit zum Angriffspunkt; es prävalieren gastrische Erscheinungen bei Personen mit früher gestörter Verdauung, nervöse Erscheinungen bei solchen, die ein angestrengtes Leben hinter sich haben oder neurasthenisch sind, die heftigsten Bronchial- und Lungenaffektionen werden beobachtet bei Personen mit ältern Katarrhen und Lungenleiden. Das Krankheitsbild der G. zeigt ferner allerorten auch eine gewisse Lokalfarbe: in Malariagegenden Malaria-Erscheinungen, an Orten mit häufigen Lungenentzündungen zahlreiche Grippe-Lungenentzündungen und an sanitär sehr günstigen Orten besonders milde Grippeformen. Tritt die G. im Sommer auf, so herrschen Symptome der Verdauungsorgane vor (besonders Diarrhöen), im Winter treten Erscheinungen von seiten der Atmungsorgane mehr in den Vordergrund. Um unter dieser Vielgestaltigkeit der Erscheinungen das Charakteristische herauszufinden, sei zunächst das Fieber erwähnt. Dasselbe tritt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle rasch auf und steigt meist schon im Beginn der Krankheit auf seine höchste Höhe: 39-40°. Nach 1, 2 oder 3 Tagen tritt meist unter Schweißausbruch plötzliche Entfiebe-^[folgende Seite]