Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

385

Großbritannien (Geschichte).

Juni bereits erkannte die Regierung, daß sie ihre drei großen Gesetzvorlagen (neben den beiden zuletzt besprochenen diejenige über die Umgestaltung der Zehntenpflicht) in dieser Session nicht würde durchbringen können. Um nun wenigstens die Vorarbeiten dafür zu retten und in der nächsten Tagung die Beratung nicht wieder von vorn beginnen zu müssen, schlug Salisbury 12. Juni in einer neuen Versammlung der konservativen Partei eine Abänderung der Geschäftsordnung des Hauses in dem Sinne vor, daß alle Bills in einer neuen Session an dem Punkte wieder aufgenommen werden sollten, bis zu welchem sie in der vorhergehenden Session gelangt wären. Die Konservativen erklärten sich damit einverstanden; auch die liberalen Unionisten billigten den Vorschlag in einer am folgenden Tage abgehaltenen Parteiversammlung, und derselbe wurde dem Hause vorgelegt und einer Kommission überwiesen. Allein da Gladstone denselben bekämpfte, und da unter diesen Umständen die Debatten darüber nur neuen Zeitverlust herbeigeführt haben würden, blieb der Regierung nichts andres übrig, als auf ihren Vorschlag selbst, damit zugleich aber auch auf die Erledigung der drei großen von ihr in Angriff genommenen Reformmaßregeln zu verzichten. Indem W. H. Smith diesen Entschluß der Regierung 10. Juli dem Hause ankündigte, sprach er zugleich die Absicht derselben aus, das Parlament im Herbst wieder einzuberufen und demselben die Landankaufs und die Zehntenbill aufs neue vorzulegen.

Nun erst nahmen die Geschäfte einen schnellern Verlauf. Die 350,000 Pfd. Sterl., welche auf die Ablösung der Schankkonzessionen jährlich hatten verwendet werden sollen, wurden den Grafschaftsbehörden überwiesen, in Irland für Schulzwecke, in England und Schottland zu beliebiger Verwendung. Die Budgetberatung wurde 13. Aug. nach mehreren zwölfstündigen Sitzungen des Unterhauses zu Ende gebracht. Am 18. Aug. wurde die Session des Parlaments geschlossen. Ihr Ertrag war auf dem Gebiet der innern Politik kein sehr erheblicher. Zu stande gekommen waren außer einigen Kolonialgesetzen, unter denen die Verleihung einer Repräsentativ-Verfassung an die Kolonie Westaustralien das Wichtigste war, nur Gesetze von minder erheblicher Bedeutung; darunter mögen ein Gesetz zur Hebung des elementaren und höhern technischen Unterrichts, die Gesetze über die Verbesserung der sanitären Verhältnisse Londons und der Wohnungsverhältnisse der arbeitenden Klassen, endlich eine in den letzten Tagen der Session, angesichts der in Aussicht stehenden Mißernte in Irland, zur Vermeidung eines Notstandes daselbst eingebrachte Vorlage über neue Eisenbahnbauten erwähnt werden.

Bei diesem Mangel an Erfolgen auf dem Gebiet der innern Gesetzgebung war es für die Regierung tröstlich, daß sie auf in der That glänzende Ergebnisse ihrer auswärtigen Politik hinweisen konnte; war dort eigne Ungeschicklichkeit und geschickte Taktik der Gegner ihr überall hemmend in den Weg getreten, so hatte hier Lord Salisbury seine großen Fähigkeiten ungestört bewähren können; es war ihm gelungen, bei den Verhandlungen, welche seit langem unter den europäischen Kolonialmächten über die Teilung Afrikas gepflogen wurden, seinem Vaterland durch eine Reihe von Verträgen weitgehende Vorteile zu sichern. Der erste von diesen Verträgen war derjenige mit Deutschland, der nach längern in Berlin und London geführten Unterhandlungen 17. Juni in seinen Grundzügen bekannt und 1. Juli von beiden Mächten unterzeichnet wurde. Er grenzte die Interessensphären der Kontrahenten in Ost- und Südwestafrika sowie im Togogebiet ab und gewährte den Angehörigen beider Mächte in dem ausgedehnten Bereich zwischen dem Nyassa-, dem Tanganjikasee und dem Congostaat volle Verkehrs- und Abgabenfreiheit. Deutschland überließ an England das Protektorat über das Wituland und über das Sultanat von Sansibar mit Ausnahme der zu dem letztern gehörigen, aber von Deutschland auf Grund früherer Verträge okkupierten Festlandsküstenstriche und der Insel Mafia; diese letztern Gebiete sollten vom Sultan von Sansibar gegen eine Geldentschädigung an Deutschland abgetreten werden, wofür England seinen Einfluß beim Sultan einzusetzen versprach. Endlich trat England, einem seit langem gehegten Wunsch des deutschen Kaisers und seines Volkes Rechnung tragend, die Insel Helgoland an Deutschland ab. Die Bedeutung dieses Vertrags, der in G., abgesehen von gewissen ultraradikalen Kreisen, mit allgemeiner Befriedigung aufgenommen wurde, beruhte nicht bloß auf seinen eigentlichen Festsetzungen selbst, sondern auch darauf, daß derselbe aufs neue die guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen G. und Deutschland darthat, was auf die allgemeinen politischen Verhältnisse zurückwirken und der Bewahrung des europäischen Friedens zu statten kommen mußte; ein abermaliger Besuch, den Kaiser Wilhelm II. im Anfang des August in England abstattete, bei welchem er mit dem englischen Hofe aufs herzlichste verkehrte und von der Bevölkerung freudigst begrüßt wurde, gab einen weitern Beweis von der Annäherung der beiden blutsverwandten Reiche. Obwohl die englische Regierung verfassungsmäßig nicht verpflichtet gewesen wäre, das Abkommen mit Deutschland dem Parlament zu unterbreiten, hielt sie es doch für angemessen, wenigstens zu der Abtretung von Helgoland die Zustimmung desselben einzuholen; die bezügliche Bill wurde 15. Juli vom Oberhaus und 29. Juli vom Unterhaus angenommen, nachdem einige Gegenanträge, darunter ein Amendement, zunächst eine Volksabstimmung in Helgoland herbeizuführen, verworfen worden waren. Die feierliche Übergabe der Insel an die deutschen Behörden fand 9. Aug. statt.

Dem Vertrag mit Deutschland folgten Verhandlungen mit Frankreich, welche schon deswegen nötig waren, weil G. und Frankreich sich durch ein früheres Abkommen verpflichtet hatten, beiderseits die Unabhängigkeit des Sultans von Sansibar zu respektieren. Sie führten zu einem am 5. Aug. abgeschlossenen Vertrag, durch welchen Frankreich seine Zustimmung zu der englischen Schutzherrschaft über Sansibar gab, wogegen England dem französischen Protektorat über die Insel Madagaskar nachträglich die bisher versagte Anerkennung zu teil werden ließ. Auch hier wurde gleichzeitig eine Abgrenzung der Interessensphären beider Mächte vorgenommen. Ungeregelt blieb freilich zunächst noch eine andre Differenz zwischen G. und Frankreich wegen der dem letztern durch den Frieden von Utrecht eingeräumten Fischereirechte an der Küste von Neufundland, welche von der Bevölkerung dieser britischen Kolonie auf das lebhafteste bekämpft wurden; die Verhandlungen darüber wurden fortgeführt.

Zwischen G. und Portugal kam der Teilungsvertrag über die afrikanischen Besitzungen, welcher dem erstern sehr bedeutende Vorteile sicherte, 20. Aug. zu stande; allein derselbe rief in Portugal unter der Bevölkerung eine so heftige Opposition hervor, daß das portugiesische Ministerium zurücktreten mußte, und daß auch die nach langer Krisis neugebildete Regierung demselben ihre Ratifikation zunächst noch