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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Justizstatistik

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Justizstatistik (für Zivil- und Strafrechtspflege).

schließlich in Anlehnung und für die Zwecke des prozessualen Vorgangs gehandhabt; sie ist danach geradezu vollkommen eine Justizgeschäftsstatistik, welche weder ein allgemeines noch ein spezifisch wissenschaftliches Interesse besitzt. Sie gliedert sich wieder in die Statistik der Streitsachen und in jene der sogen. außerstrittigen Angelegenheiten. Bei der erstern kommt es vorwiegend auf die Konstatierung der Prozesse und ihrer relevanten Phasen an, ohne daß auf die soziale Bedeutung und Eigenart des Rechtsstreites als auf die zu Grunde liegende soziale Erscheinung selbst Rücksicht genommen würde. Aber auch eine solche Ermittelung dieser Streitthatsachen selbst würde nur eine unvollkommene Erkenntnis vermitteln, denn das Wesentliche sind hier die auf dem Boden des bürgerlichen Rechtes erfolgenden gesellschaftlichen Beziehungen, ihre Begründung, Dauer, Beendigung, ihre einverständliche oder prozessuale Existenz. Diese Beziehungen aber werden, wenn überhaupt, durch ganz andre Gebiete der Verwaltungsstatistik, z. B. die Bevölkerungs-, Wirtschafts- etc. Statistik, vermittelt oder bleiben ganz unbekannt. Somit bleibt eine Zurückführung der Streitsachen auf die zu Grunde liegenden bürgerlichen Rechtsbeziehungen im allgemeinen unmöglich, womit ein steter empfindlicher Mangel der J. auf dem Gebiet der Streitsachen gegeben ist. Schon von größerer methodisch-wissenschaftlicher, aber auch praktischer Bedeutung ist die Statistik der außerstrittigen Angelegenheiten, wie z. B. die Statistik der Konkurse, der Ehescheidungen und Ehetrennungen, der Vormundschafts-, Kuratel-, Erbschaftsangelegenheiten etc. Hier läßt sich nicht nur eine Beschreibung der sozial wichtigen Merkmale der zu Grunde liegenden Thatsachen, z. B. der Konkurse, Eheprozesse etc., leicht vornehmen, sondern auch eine Zurückführung derselben auf die analogen Verhältnisse des bürgerlichen Rechtes, z. B. der Konkurse auf die Geschäftsbetriebe, der Ehestreite auf die bestehenden Ehen etc. Mit dieser Möglichkeit einer bessern Gestaltung der J. auf diesem Gebiet geht allerdings die faktische Ausbildung derselben heute noch nicht Hand in Hand. Fast nur die Statistik der Ehescheidungen ist (allerdings auch noch nicht genügend) durchgebildet, während die Konkurse, so wichtig dies wäre, nicht entfernt ausreichend beobachtet werden. Ein wesentlicher Fortschritt ließe sich erzielen, wenn, wie dies gegenwärtig in Italien beabsichtigt wird, eine eigne Notariatsstatistik geschaffen würde. In dieser ließen sich die wesentlichsten außerstrittigen Rechtserscheinungen zusammenfassen und durch Vermittelung der Notare als vollkommen sachverständiger Organe erheben. Allerdings darf nicht vergessen werden, daß mit dieser Bezeichnung einer Notariatsstatistik nur ein Sammelname gegeben sein soll, der sich von dem erhebenden Organ herleitet, wobei die ja sozial ganz verschiedenen Erhebungsthatsachen je nach ihrer Eigenart ganz besonders behandelt werden müßten.

Während so die Ziviljustizstatistik ein bisher ganz unvollkommen ausgebildetes und zurückgebliebenes Gebiet der J. darstellt, hat die Strafjustizstatistik eine verhältnismäßig größere Ausbildung und auch eine hohe wissenschaftliche Bedeutung erlangt. Auch dieses Gebiet ist nicht einheitlich, sondern zerfällt in eine Reihe von Spezialgebieten. Dieselben sind: die Kriminalstatistik als das wichtigste, umfassend das Zuwiderhandeln gegen das Strafrecht im weitesten Sinne; dann die Statistik der administrativen Strafjustiz mit ihren Gebieten der Statistik des Polizeistrafrechts und des Finanzstrafrechts. Dazu kommt endlich noch die Gefängnisstatistik. Doch sind diese Teile der Strafjustizstatistik sehr verschieden ausgebildet. Die Statistik der administrativen Strafsachen, insbesondere der Polizeiübertretungen und der Finanzsachen, ist bisher ganz rudimentär. Die erstere hängt in ihrer geringen Ausbildung mit dem geheimen und unzureichenden Zustand des Polizeistrafrechts zusammen; außer etwa den schönen Arbeiten G. v. Mayrs über Bayern und den statistischen Ausweisen einiger hauptstädtischer (London, Wien etc.) und städtischer Polizeibehörden überhaupt ist kaum etwas hierüber anzutreffen. Es ist dies zu bedauern, indem sozial höchst wichtige Erscheinungen, wie z. B. die Prostitution, die Vagabondage, das Betteln etc., kaum auf einem andern Wege als auf jenem der Statistik des Polizeistrafrechts erfaßt werden können. Auch die Statistik der Finanzstrafjustiz (des sogen. Gefällsstrafrechts) ist von dem mehr geheimen Charakter beeinflußt, welchen die Finanzverwaltung selbst heute noch vielfach an sich trägt; was hierüber bekannt ist, kann auch nur als ganz lückenhaft bezeichnet werden. Die Gefängnisstatistik ist dagegen in den meisten Staaten sehr gut ausgebildet. Sie umfaßt im Wesen Thatsachen, welche auch in das Gebiet der eigentlichen Kriminalstatistik gehören. Durch die besondere verwaltungsrechtliche Ausbildung, welche das Gefängniswesen genommen hat, hat aber auch seine Statistik der Kriminalstatistik gegenüber vielfach eine Selbständigkeit behauptet (so in Österreich, Frankreich, England, Italien, Schweden, den Niederlanden etc.). Die Gefängnisstatistik scheidet sich in einen administrativen und einen sozialen Teil und wird meist von den zentralen Justiz- oder den Gefängnisbehörden und nicht von den statistischen Ämtern durchgeführt. Die administrative Gefängnisstatistik gliedert sich zunächst in die Realstatistik, welche sich auf die bei der Durchführung der Strafe notwendigen Sachgüter und Dienstleistungen bezieht (Lokalitäten, Bildungsmittel, Ökonomika, Dienstpersonale, humanitäre und sanitäre Einrichtungen), und dann in die Personalstatistik der Gefangenen (Alter, Geschlecht, Beruf und Beschäftigung, Zugang und Abgang nebst deren Ursachen, als Tod, Selbstmord etc., Erkrankungen). Die soziale Gefängnisstatistik dient in gleicher Weise wie die eigentliche Kriminalstatistik dazu, um zu der Erforschung der Ursachen der kriminellen Bethätigung vorzudringen; sie geht zum Teil mit der Kriminalstatistik parallel, zum Teil über diese hinaus, ist aber im Wesen doch mit dieser gleichartig, so daß für dieselbe dasjenige gilt, was nun über die Kriminalstatistik zu sagen ist.

Die Kriminalstatistik ist das weitaus wichtigste und ausgebildetste Gebiet der J. Ihre Bedeutung liegt zunächst auf dem Gebiet der Moralstatistik (s. d., Bd. 11, S. 794), indem durch die Anwendung der Massenbeobachtung Regelmäßigkeiten auf diesem Gebiet der menschlichen Willensbethätigung hervortreten und es möglich ist, zu den Ursachen dieser letztern und der Regelmäßigkeiten vorzudringen; speziell das Problem der menschlichen Willensfreiheit ist durch die Kriminalstatistik in eine neue Phase getreten. Ferner liegt die Wichtigkeit der Kriminalstatistik auf dem Gebiet der Strafrechtswissenschaft und damit der Gesetzgebung. Der beste Beweis hierfür ist die große Bedeutung, welche die Reformbestrebungen im Strafrecht der Statistik beilegen, wie dies z. B. auch seitens der neubegründeten Internationalen kriminalistischen Vereinigung und der italienischen kriminalistischen Schule der Fall ist. Nicht zu übersehen ist dabei vornehmlich die Bedeutung der ursachlichen Erfassung einer Strafsache, die Beobachtung der Wirkung der