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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kunstausstellungen d. J. 1890 in Deutschland

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Kunstausstellungen d. J. 1890 in Deutschland (München).

wie energische Widersacher gefunden haben, hat der Münchener Jahresausstellung von 1890 gewissermaßen die Signatur verliehen, durch die selbst die kühnsten Wagestücke der Münchener Naturalisten in den Hintergrund gedrängt worden sind. Die Glasgower Malerschule, die bereits über 300 Mitglieder zählt und auch eine besondere Zeitschrift ins Leben gerufen hat, die ihre Kunst- und Naturanschauung ästhetisch und kritisch vertritt, soll aus einer Anzahl von Dilettanten, von Angehörigen verschiedener Kreise der Handels- und Geschäftswelt hervorgegangen sein, die ohne Vorbildung, nur nach ihrem eignen Empfinden und völlig naiv in ihren Mußestunden kleine Naturausschnitte, wie sie sich ihnen in Wald und Feld darboten, mit Öl-, Wasser- und Pastellfarben festzuhalten suchten. Diese ursprünglichen Erzeugnisse erregten die Aufmerksamkeit reicher Kunstliebhaber, die es einigen dieser jungen Künstler ermöglichten, sich im Zeichnen zu vervollkommnen und dann ihre weitere Ausbildung in Paris zu suchen. Was dort am meisten auf sie eingewirkt hat, muß, nach den in München ausgestellten Bildern zu urteilen, der Impressionismus gewesen sein. Denn die Mehrzahl der schottischen Bilder kommt dem französischen Impressionismus, der in Paris übrigens bereits ein fast überwundener Standpunkt ist, am nächsten. Die Vernachlässigung der Perspektive, das Fehlen der Lufttöne und die naive Nebeneinanderstellung der grellsten Kontrastfarben ohne Mitteltöne erinnern daneben auch an die frühmittelalterlichen Buchmalereien und die Malereien der Japaner. Unter völliger Aufgabe einer bestimmten Zeichnung und körperlichen Modellierung beschränken sie sich darauf, einen Farbenfleck neben den andern zu setzen und dadurch in dem Beschauer eine Stimmung hervorzurufen, die sie selbst beim Anblick des dargestellten Naturausschnittes empfunden zu haben glauben. Es sind meist sehr anspruchslose Landschaften, Wald- und Gartenpartien, Felder und Wiesen mit Hirten, Hirtinnen und Herdevieh, mit Kindern, die Blumen oder Obst pflücken oder Pilze sammeln, seltener mit historischer oder legendarischer Staffage, wie z. B. Königin Maria von Schottland am Morgen nach der Schlacht bei Langside in einem Walde von John Lavery, der gute König Wenzel in einer Winterlandschaft von Alexander Roche und die heil. Agnes von David Gauld. Der Umfang der Mehrzahl dieser Ölgemälde, Aquarelle und Pastellzeichnungen ist meist ein geringer; aber sie wollen nicht etwa als Skizzen, als Vorstudien für auszuführende Gemälde, sondern als fertige Bilder angesehen sein. Ihre Schöpfer suchen ihren Stolz in der Unabhängigkeit von jeder bisher in der modernen Malerei in Geltung gewesenen Überlieferung; indem sie zur reinen, unverfälschten Natur zurückgekehrt zu sein glauben, haben sie jedoch zugleich die malerische Technik, die Errungenschaft von Jahrhunderten, auf die niedrigste Stufe zurückgeschraubt. Höher als diese Landschaften stehen die Bildnisse von James Guthrie, dem hervorragendsten unter den Glasgower Malern, der zwar auch im wesentlichen die gleiche robuste Malweise anwendet, aber in der freien Vornehmheit seiner Auffassung doch auch den Einfluß alter Meister, insbesondere des Velazquez, durchblicken läßt. Er wurde mit einer ersten Medaille ausgezeichnet, während der schon genannte John Lavery für eine Landschaft mit Figuren, einen Tennispark, die in den Einzelheiten sorgfältiger durchgearbeitet war als seine übrigen ausgestellten Arbeiten, eine zweite Medaille erhielt.

Unter den italienischen Bildern fesselten wie gewöhnlich am meisten die Szenen aus dem modernen Volksleben durch die dramatische Lebendigkeit der Darstellung, durch die Frische und Naivität des Humors und das lustige, blühende Kolorit, das selbst die grellsten Lokalfarben zu einem harmonischen Boukett zusammenzustimmen weiß, so z. B. die Unermüdlichen (ein Tänzerpaar in der Osteria) von E. Lancerotto, der Windstoß auf dem Kai von Silvio G. Rotta, die Überfahrt nach San Giorgio Maggiore und auf dem Markusplatz von A. Milesi und die Arbeiterinnen im Reisfeld von Ettore Tito. Die italienische Plastik bot in den Terrakottebüsten und -Figuren von Mohren und Mohrinnen von Pagano in Rom Muster feiner Charakteristik und geschmackvollster Anwendung der Polychromie. In Spanien ist die Geschichtsmalerei großen Stiles, die 1883 mit einer Reihe hervorragender, eine neue Entwickelung verheißender Schöpfungen erschienen war, wieder in den Hintergrund getreten. Wenigstens bot die Ausstellung Bemerkenswertes nur in einigen Genrebildern, unter denen der phantastische Hexensabbat von José Benlliure y Gil (s. d.), nach dem Hochamt (eine figurenreiche Szene vor einer Kirche) von Ramon Tusquets und eine Taufe in Spanien von Viniegra y Lasso vorzugsweise durch die geistreiche Technik und die Schärfe und Feinheit der Charakteristik fesselten.

Unter den deutschen Kunststädten war naturgemäß München so stark vertreten, daß die übrigen daneben nicht in Betracht kamen, am ehesten noch Düsseldorf, das in Vautiers' Gast im Herrenstübl und in Bokelmanns Täufling (Motiv aus den Dithmarschen) zwei ausgezeichnete Leistungen echt deutscher Genremalerei geschickt hatte. Obwohl die Münchener Naturalisten, welche die trivialsten Vorgänge aus dem Alltagsleben in Stadt und Dorf mit lebensgroßen Figuren darzustellen lieben, alle ihre Kräfte aufgeboten hatten, um die reformatorische Thätigkeit, die sie innerhalb der modernen Kunstbewegung auszuüben glauben, in ein helles Licht zu stellen, sind die großen Erfolge der Ausstellung nicht in ihrem Lager, sondern in dem der Vertreter der alten Schule und ihrer jüngern Nachfolger zu suchen. Von den ältern Künstlern waren besonders W. Diez, Joseph Brandt, Matthias Schmid, W. Leibl, Joseph Wopfner, Joseph Wenglein, Albert Keller, L. Willroider, G. Schönleber (jetzt in Karlsruhe), A. Holmberg, von den jüngern Claus Meyer, Bruno Piglhein, Joseph Weiser und T. E. Rosenthal durch Werke vertreten, die sie nicht nur auf der vollen Höhe ihres Schaffens, sondern auch auf der Suche nach neuen koloristischen Problemen oder nach neuen Stoffen zeigten. Insbesondere suchte Keller in der Parade vor der Leiche des Franzosen Latour d'Auvergne auf dem Kirchhof zu Oberhausen und in einem abendlichen Diner bei Kerzenlicht die schwierigsten Beleuchtungseffekte zur Darstellung zu bringen. In gleicher Richtung bewegte sich der verlorne Sohn von Joseph Block, einem Schüler und Mitarbeiter Piglheins, der nicht allein in diesem ernst gestimmten Sittenbild aus dem Leben der höhern Stände, sondern auch in Bildnissen und Genreszenen aus dem Leben der niedern Volksklassen eine scharf ausgeprägte Begabung für ein tiefes Eindringen in das seelische Wesen der dargestellten Personen bekundet.

Unter den neu aufgetauchten Talenten, auf deren weitere Entwickelung man große Hoffnungen zu setzen berechtigt ist, sind von hervorragender Bedeutung noch Karl Marr (s. d.), der nach dem großen, 1889 mit den Flagellanten erzielten Erfolg seine reiche koloristische Begabung und die ergreifende Tiefe