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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Naturforscherversammlung

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Naturforscherversammlung (Bremen 1890).

ist. Die doppelte Welle, welche die Nordsee durchläuft, die Neigung des Wassers von NO. nach SW. infolge der lokalen Anziehung der skandinavischen Gebirgsmassen, die Art, wie die Flut gegen die flache Küste anläuft, und die Einwirkung der fast auf einen Punkt gerichteten Strommündungen bieten jedes für sich ein besonders schwieriges Problem. Hierin inbegriffen ist die Schwierigkeit einer Bestimmung der Höhe des Meeresspiegels an den verschiedenen Örtlichkeiten, und weil es bisher nicht möglich war, den Meeresspiegel durch Nivellement zu bearbeiten, so ist auch nicht möglich, zu sagen, wie sich z. B. die Höhe der Insel Helgoland gegenüber der des benachbarten Festlandes verhält. Das Meer bildet regelmäßige, bez. regelmäßig nach Ebbe, Flut etc. sich verändernde Erhebungen und Einsenkungen, die durch genaue Messung erst festgestellt werden müssen, ehe man aus der Erhebung der Insel über den Wasserspiegel, wie er an ihrem Strande sich zeigt, das Höhenverhältnis Helgolands zum Festland berechnen kann. Jedenfalls bleibt es interessant, daß in Helgoland nur ein mittlerer Flutwechsel von 1,84 m stattfindet, wogegen derselbe in Kuxhaven 3,1, bei Bremerhaven 3,3 und bei Wilhelmshaven 3,8 m beträgt. Die Verschiedenheit dieser Maße ist aus der Lage der Beobachtungspunkte an den sehr verschieden gestalteten Mündungstrichtern der betreffenden Flüsse zu erklären. Die jetzt in Ausführung begriffene Korrektion der Unterweser wird die Bremer Verhältnisse in mancher Beziehung beeinflussen.

Chun (Königsberg) schilderte hierauf die pelagische Tierwelt in großen Tiefen. An die Tiefseeforschungen knüpft sich ein hervorragendes Interesse, weil sie nicht nur über manche Rätsel der Meeresfauna, sondern auch über geologische, geographische und physikalische Fragen Auskunft zu geben versprechen. Es ist nur zu wünschen, daß für diese Forschungen künftig, namentlich auch in Deutschland, reichere Mittel zur Verfügung gestellt werden mögen als bisher. Von größtem Belang ist die Frage nach der Ernährung der Tiefseeorganismen. Die Nahrung muß offenbar in den oberflächlichen Schichten des Meeres durch pflanzliche Organismen erzeugt werden. Das Licht dringt aber nur bis zu Tiefen von 500 m in das Meer ein, und die Möglichkeit des Gedeihens von assimilierenden, chlorophyllführenden Pflanzen scheint schon viel früher aufzuhören. Die Produktion von organischer Substanz in den oberflächlichen Meeresschichten ist weit beträchtlicher, als man glauben sollte; für die Ostsee ist sie auf 0,75 der Produktion einer gleich großen Wiesenfläche berechnet. Die Pflanzen dienen zahllosen kleinen Tieren zur Nahrung, von denen dann wieder größere Tiere leben. Die Nahrung der Tiefseetiere besteht unzweifelhaft aus organischer Substanz, welche an der Oberfläche gebildet ist. Nach den überall bestätigten morphologischen und biologischen Gesetzen mußten bei den Tieren der finstern Tiefsee die Augen verkümmern oder ganz fortfallen. Als Ersatz bildete sich ein ungemein entwickelter Spürapparat aus Fühlern und Tastwerkzeugen, die gelegentlich die zehnfache Länge des Rumpfes erreichen und zum Auffinden und Auffangen der Nahrung, vielleicht auch als Riechapparate dienen. Manche Tiefseebewohner besitzen nun aber sehr große und äußerst fein organisierte Augen. Es ist bisher nicht erwiesen, daß ultraviolette Strahlen, die unser Auge nicht wahrnimmt, in die Tiefe dringen, und so erscheinen diese Augen nur verständlich im Hinblick auf die Leuchtorgane, mit welchen die überwiegende Mehrzahl der Tiefseetiere ausgestattet ist. Ein bei nächtlichem Fange der Oberfläche des Wassers sich näherndes, einem glühenden Ballon gleichendes Tiefseenetz bietet einen magischen Anblick. Um nun aber bei solchem Phosphoreszenzlicht sehen zu können, bedürfen die Tiere besonders vollkommener Augen. Sehr bemerkenswert ist die Thatsache, daß in der Tiefe nicht nur die eigentlichen ständig dort hausenden Tiere angetroffen werden, sondern auch Wandertiere, die aus höhern Schichten des Meeres herabsteigen. Nur wenige Arten der pelagischen Fauna bevölkern das ganze Jahr hindurch die Oberfläche. Die meisten Formen finden sich regelmäßig nur während gewisser Monate und verschwinden dann. Während des Hochsommers ist die Oberfläche sehr arm an Arten, reicher im Herbst und Winter, am reichsten zu Beginn des Frühjahrs. Früher nahm man an, daß die zahlreichen, zu dieser Jahreszeit die Buchten der Küsten, die Strömungen bevölkernden Arten ins freie Meer hinausgetrieben werden oder nach einer Periode reger Vermehrung absterben. Jetzt weiß man, daß sie in die Tiefe versinken, um nach bestimmter Zeit wieder emporzutauchen. Viele Oberflächenformen sterben aber auch jährlich ab, während ihre Larven gleichzeitig in die Tiefe sinken, dort den größten Teil des Jahres verharren, um dann weiter entwickelt für wenige Monate aufzusteigen und im Vollgenuß des Sonnenlichts, der erhöhten Oberflächentemperatur und der überreich gebotenen Nahrung die Geschlechtsreife zu erlangen. Diesem Versinken der Oberflächentiere steht gegenüber, daß eigentliche Tiefseetiere gelegentlich nach oben gelangen, z. B. durch die wirbelnden Strömungen, die während des Vollmondes in manchen Teilen des Golfstroms, an den Kanarischen Inseln und andern Orten aus der Tiefe nach der Oberfläche steigen und alles mit sich reißen, was in ihren Bereich gelangt. Das Vorkommen derselben Tierart in verschiedenen Meeresschichten verschiedener geographischer Gebiete, das Auf- und Niedersteigen an derselben Stelle des Meeres erklärt sich aus der Empfindlichkeit des Tieres gegen Licht und Wärme. Sicher treibt das Nahrungsbedürfnis die Tiere nicht in die Tiefe. Dort unten herrscht zweifellos eher Nahrungsmangel und überdies Gefahr von seiten der echten Tiefseebewohner, die in ihrem eigensten Gebiet den Ankömmlingen überlegen sind und sie als willkommene Beute begrüßen.

In der zweiten Sitzung berichtete Lassar (Berlin) über die bevorstehende Umgestaltung des Gesellschaftsorgans, welches, wie die Veröffentlichungen andrer gelehrter Gesellschaften, auf Buchhändlerweg vertrieben werden soll. His (Leipzig) sprach über die inzwischen erreichte Erlangung der Rechte einer juristischen Person für die Gesellschaft und knüpfte daran Betrachtungen über die Neuorganisation der Gesellschaft. Das Mißtrauen, welches derselben anfangs von mancher Seite entgegengebracht wurde, scheint noch nicht allenthalben geschwunden zu sein. Als eigentliche Mitglieder seien bisher nur etwa 600 eingetragen. Er könne nur versichern, daß trotz der jetzigen festern äußern Gestaltung der Gesellschaft die freie, unbeeinflußte, geistige Bewegung fortbestehe und niemand Anlaß habe, in Befürchtung des Gegenteils der Gesellschaft fern zu bleiben. Das zeitige Vermögen der Gesellschaft beträgt 36,066 Mark. Als nächster Versammlungsort wird Halle, zum ersten Vorsitzenden Professor His in Leipzig gewählt.

Hierauf sprach Ostwald (Leipzig) über Altes und Neues in der Chemie. Ein dauerndes Verdienst um die Entwickelung der physikalischen Chemie habe sich Berzelius dadurch erworben, daß er den elektro-^[folgende Seite]