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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ostindien

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Ostindien (Rechtspflege).

zen des indobritischen Reiches ganze Stämme zu Radschputen werden sehen. Von der dritten Kaste des indischen Altertums, den Vaisyas, haben sich manche Überreste in den verschiedenen Klassen der Banyas, »Gewerbtreibenden« (v. sanskr. vanij, »Kaufmann«), 3,275,921 Köpfe, erhalten. Die stärkste Zunahme gegen früher scheint bei den im Altertum als Sudras und Mischkasten bezeichneten Kasten eingetreten zu sein, teils weil ein Stamm der Urbevölkerung nach dem andern von den eingewanderten Ariern unterjocht wurde, teils weil viele Vermischungen stattfanden, teils weil mit der zunehmenden Kultur auch die Arbeitsteilung sich mehr und mehr entwickelte. Auch das religiöse Element ist, besonders durch die ununterbrochen fortgehende Bildung neuer Sekten, ein wichtiger Faktor bei der Vermehrung der Kasten.

Während das Kastenwesen sich elastisch genug zeigte, um sich weit auseinander liegenden Stadien sozialer Entwickelung anzupassen und das ganze Völkergemisch Indiens in sich aufzunehmen, war die vorherrschende Tendenz doch auf die Ausbildung solcher Einrichtungen gerichtet, welche geeignet waren, die Organisation der Kasten zu kräftigen und Neuerungen und fremde Eindringlinge abzuwehren. Jede Kaste ist in gewisser Weise gleichzeitig eine Zunft oder Handelsgilde, eine Assekuranzgesellschaft und eine religiöse Sekte. Als Zunft sorgt sie für die richtige Ausbildung der heranwachsenden Mitglieder, setzt die Löhne fest, sitzt über Vergehungen gegen die Kastenordnung zu Gericht und befördert die Kameradschaft durch gesellige Zusammenkünfte. Die berühmten alten Bauwerke Indiens, die das Staunen der Reisenden erregen, wurden von Zünften und Innungen dieser Art errichtet, auf denen auch die Blüte der verschiedenen einheimischen Industrien Indiens ausschließlich beruht. Um die Konkurrenz etwas zu zügeln, setzt die Kaste gewisse Feiertage fest, an welchen nicht gearbeitet werden darf. Wer dieses Verbot übertritt, muß eine Geldbuße bezahlen. Geldstrafen spielen überhaupt eine wichtige Rolle. Am gewöhnlichsten nehmen sie die Form einer Festmahlzeit an, welche das straffällige Mitglied allen übrigen Mitgliedern der Kaste zu geben gezwungen wird. Art und Kosten der Bewirtung sind dabei ein für allemal festgesetzt, und keiner der Eingeladenen darf zweimal von einem Gericht fordern. Schwerere Vergehungen werden durch Ausstoßung aus der Kaste gesühnt. Noch jetzt wird in solchen Fällen die alte Zeremonie des Ghataspota (»Zerwerfen des Topfes«) vollzogen, wodurch die Ausschließung aus der Gemeinschaft der Stammesgenossen figürlich angedeutet wird. Früher wurde durch die Ausschließung aus der Kaste auch das Erbrecht völlig aufgehoben und die Ehe aufgelöst. Die englische Gesetzgebung hat alle zivil- und vermögensrechtlichen Folgen der Ausstoßung aus der Kaste beseitigt. Aber noch immer kann der Ausgestoßene sich nicht innerhalb der Kaste verheiraten, darf nicht mit seinen Kollegen zusammen speisen und geht jeder geistlichen Hilfe und der Dienste des Barbiers und Wäschers verlustig. Er ist daher in der Regel sehr gern bereit, sich zur Sühne durch eine Festmahlzeit loszukaufen. Auch das Lehrgeld, welches von den Anfängern erhoben wird, bildet eine Einnahmequelle für die Zunft. Es beläuft sich z. B. in Ahmedebad je nach der Wichtigkeit des betreffenden Gewerbes auf 5-50 Pfd. Sterl. und wird meistens zur Bestreitung gemeinsamer Feste verwendet. Streiks zur Erzwingung höherer Löhne kommen bei den indischen Zünften so gut wie bei den Handwerkervereinen Europas vor.

Als Assekuranzgesellschaft vertritt die Kaste die Stelle der Armenpflege, welche in Indien als solche nicht existiert. Jede anständige Kaste ist auf die Unterstützung dürftiger Mitglieder bedacht. Auch ist die Aussicht, in der Kaste zu einer angesehenen Stellung emporzusteigen, ein wirksames Motiv, um sich anzustrengen und vor den übrigen hervorzuthun.

Als religiöse Sekte hat jede Kaste ihre bestimmten Gebräuche und Observanzen sowie eine ziemlich weitgehende Jurisdiktion über ihre sämtlichen Mitglieder bei Vergehungen gegen das religiöse und Sittengesetz. Viele Kasten, wie z. B. die Gosains, welche den ganzen Körper mit Asche zu beschmieren pflegen, haben einen rein religiösen Charakter. Als gemeinsames Kennzeichen der Sekte dient ein Stirnzeichen, das mit Farbe jeden Morgen erneuert wird.

Im ganzen genommen muß man sich hüten, über den Schattenseiten des Kastenwesens seine günstigen Wirkungen zu übersehen. In dem losen Gefüge orientalischer Staaten hat es jedenfalls von jeher durch Beförderung des Korporationsgeistes ein vortreffliches Präservativ gegen die Ausschreitungen und das Sinken Einzelner und die Basis aller großen gemeinsamen Unternehmungen gebildet. Vgl. Kitts, Compendium of the castes and tribes found in India (Lond. 1886); Hunter, The Indian Empire (2. Aufl., das. 1886); Barthélemy Saint-Hilaire, L'Inde anglaise (Par. 1887); Zimmer, Altindisches Leben (Berl. 1879); Garbe, Indische Reiseskizzen (das. 1889).

Rechtspflege in Ostindien.

Die Gesetzgebung hat in Indien in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und ist für eine Reihe wichtiger Materien auf dem Standpunkt der Kodifikation angelangt. Zugleich sind auch wichtige Ergebnisse zu verzeichnen auf dem wissenschaftlichen Gebiet der Forschungen über das alte indische Nationalrecht, das zwar bei dem Fortschreiten der Kodifikation immer mehr an Ansehen einbüßt und an Geltung im praktischen Leben verliert, aber vermöge seiner hohen Ausbildung einen dauernden Wert für die indische Kulturgeschichte und für die vergleichende Rechtswissenschaft (s. d.) behält.

Zivil- und Strafrecht haben in Indien wie in andern orientalischen Ländern von jeher einen integrierenden Bestandteil des Religions- und Sittengesetzes gebildet. Demgemäß sind die Gesetze der Hindu in demjenigen Teile der alten Sanskritlitteratur enthalten, der sich auf die Erlangung des religiösen Verdienstes, Dharma, bezieht, welches den Menschen von den Fesseln der Wiedergeburt befreit und ihn nach dem Tode der Freuden des Paradieses teilhaftig macht. In den ältesten Rechtsquellen, den Dharmasūtras, werden die einzelnen Rechtsgrundsätze noch ohne jede Spur systematischer Anordnung vorgeführt. Erst in dem berühmten Gesetzbuch des Manu findet sich eine Einteilung des gesamten Rechts in nachstehende 18 Materien: 1) Schuldrecht, 2) Depositen, 3) Verkauf eines Gegenstandes durch einen andern als den Eigentümer, 4) Handelsunternehmungen einer Gesellschaft, 5) Zurücknahme eines Geschenks, 6) Nichtbezahlung einer verabredeten Löhnung, 7) Bruch eines Übereinkommens, 8) Rückgängigmachung von Käufen und Verkäufen, 9) Streitigkeiten zwischen dem Eigentümer (von Vieh) und seinem Viehtreiber, 10) Grenzstreitigkeiten, 11) Realinjurien, 12) Personalinjurien, 13) Diebstahl, 14) Raub und andre Gewaltthaten, 15) Ehebruch, 16) Pflichten der Ehegatten, 17) Erbrecht, 18) Spiel und Tierkämpfe. Die ältesten Dharmasūtras, namentlich das Dharmasūtra des Apastamba, sind nach den Untersuchungen von Bühler im 6. Jahrh. v. Chr., wenn nicht früher, verfaßt wor-^[folgende Seite]