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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Pädagogische Litteratur 1880-90

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Pädagogische Litteratur 1880-90 (Geschichte der Pädagogik).

Worte kommt, was seit Schleiermachers Tagen kaum wieder geschehen sein mag, verdient dankbar hervorgehoben zu werden; aber auch der Versuch selbst, in der Erziehungswissenschaft einen festen wissenschaftlichen Kern von der umgebenden, im einzelnen ausgestaltenden Kunstlehre, sozusagen einen theoretisch-philosophischen und einen empirisch-historischen Teil zu scheiden, fordert sorgfältige Beachtung, wenngleich er einstweilen noch in schwer ringender Sprache und im Gewande feierlicher Dunkelheit auftritt. Ähnlichen Wunsch erweckt J. ^[Julius] Baumanns »Einführung in die Pädagogik« (Leipz. 1890), ein Heft, in dem der Göttinger Philosoph auf Grund langjähriger Erfahrung im Kolleg und im Prüfungssaal dasjenige aus der Geschichte der pädagogischen Theorien und aus der allgemeinen Pädagogik oder pädagogischen Psychologie in kurzer Auswahl darbietet, was die Studierenden befähigt, das gegebene Schulwesen seinen tiefern geschichtlichen Gründen nach zu verstehen und aus den allgemein angenommenen Lehren der Psychologie die für ihre spätere Praxis grundlegenden pädagogischen Urteile abzuleiten. Hat Dilthey sich vielleicht etwas zu ängstlich im esoterischen Heiligtum, weitern Kreisen unnahbar, gehalten, so wird Baumann bei einer zweiten Auflage vielleicht in den beiden Hauptrichtungen seines Bemühens dem Leser etwas mehr zumuten dürfen, wenigstens wenn sein Handbuch auch für den Gebrauch in den neuen Seminaren für das höhere Schulwesen zureichen soll. Unter den Theologen verdienen zwei inzwischen verstorbene Männer besonders hervorgehoben zu werden: G. Baur (gest. 1889), der Schüler Schleiermachers, mit den trefflichen »Grundzügen der Erziehungslehre« (4. Aufl., Gießen 1887), und der Verfasser des großen »Systems der christlich-kirchlichen Katechetik«, G. v. Zezschwitz (gest. 1886), mit seinem schönen »Lehrbuch der Pädagogik« (Leipz. 1882), das, aus Erlanger Vorlesungen über diesen Gegenstand hervorgewachsen, weder den entschiedenen theologischen Standpunkt noch die genaue Sachkunde und das begeisterte Interesse am Gegenstand verleugnet. Endlich sei auch im kurzen noch einiger ausländischer Vertreter der philosophischen Pädagogik gedacht, die im letzten Jahrzehnt auf die deutsche Lehrer- und Schriftstellerwelt wachsenden Einfluß geübt haben. Mannigfach waren schon immer die Wirkungen des französischen Positivisten Comte in Deutschland. Dadurch, daß seine pädagogischen Ansichten in G. Fr. Sterzel (»A. Comte als Pädagog«, Leipz. 1886) einen Monographen gefunden, der auf den merkwürdigen Parallelismus zwischen ihm und den strengen Herbartianern bezüglich des kulturhistorischen Stufenganges der Erziehung hinwies, ist das Interesse für ihn in den pädagogischen Kreisen bei uns neu belebt. Mehr aber als Comte selbst haben zwei britische Nachfolger in Deutschland Schule gemacht, die seinen Positivismus zur Biologie oder Evolutionsphilosophie ausgestalteten: Alex. Bain mit seiner »Education as a science« (5. Aufl. 1885; deutsch, Leipz. 1880) und Herbert Spencer, dessen »Education: intellectual, moral, physical« (Lond. 1861) in der Urschrift bereits an 20 Auflagen erlebte und auch in Deutschland (übersetzt von Fr. Schultze, 3. Aufl., Jena 1889) weit verbreitet ist.

Geschichte der Pädagogik.

Reges Leben herrschte während des abgelaufenen Jahrzehnts auf dem Felde der Geschichte der Pädagogik in Deutschland. Daß die Regsamkeit sich weniger in größern zusammenfassenden Darstellungen als in einzelnen Lebens- und Zeitbildern äußerte, kann der Sache nur zum wesentlichen Vorteil gereichen. Doch hat es an dem Versuch umfassenderer Darstellung der Geschichte der Erziehung nicht ganz gefehlt. Die »Geschichte der Pädagogik, dargestellt in weltgeschichtlicher Entwickelung und im organischen Zusammenhang mit dem Kulturleben der Völker« von K. Schmidt wird in 4. Auflage gegenwärtig von Fr. Dittes und seinem Nachfolger am Wiener städtischen Pädagogium, E. Hannak (Köth., seit 1886), bearbeitet, die entschlossen sind, gegenüber dem unter Hegelschem Einfluß stark hervortretenden Schematismus der frühern Auflagen mehr den kritisch gesichteten, von der Einzelforschung festgestellten Sachverhalt in den Vordergrund zu rücken. Der bis jetzt erschienene erste Band, von Hannak bearbeitet, behandelt das Erziehungswesen der Naturvölker sowie der Chinesen, Japaner, Ägypter, Semiten, Inder, Perser, Griechen und Römer. Ein überaus schwieriges und teilweise wenig dankbares Feld! Indes erweckt die rüstige Art, wie es an der Hand zuverlässiger Quellenforschungen bestellt worden, für den weitern Fortgang des Unternehmens die besten Erwartungen. Ein zweites neues Werk dieser Art unternahm neben der großen von ihm herausgegebenen Encyklopädie der Prälat K. A. Schmid in der »Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf die neuere Zeit«, einem auf 4 Bände berechneten Werke, das er in Gemeinschaft mit einer Anzahl von Gelehrten und Schulmännern zu vollenden gedachte. Es ist nicht sein Zweck, die Wissenschaft im strengern Sinne durch selbständige Untersuchungen zu fördern; den Gebildeten will er dienen, die im Gewirr der widerstreitenden Ratschläge der Parteien auch auf diesem Gebiet nach der Leuchte der Geschichte verlangen. Der erste Band (Stuttg. 1884) gibt nach der Einleitung ein übersichtliches Bild der Erziehung bei den Naturvölkern, wie bei den Kulturvölkern des Morgenlandes, den Chinesen, Indern, Persern, Semiten, besonders Assyrern, Ägyptern, dann die Geschichte der Erziehung bei den klassischen Völkern, Griechen und Römern, endlich einen Abriß des Erziehungswesens bei dem Volke der vorbereitenden Offenbarung, den Israeliten. Die Geschichte der griechischen und römischen Erziehung hat der (1887 verstorbene) Herausgeber selbst in wesentlicher Anlehnung an das gelehrte, dreibändige Werk von L. Grasberger (Würzb. 1864-80), aber in durchaus freier Gestaltung verfaßt. Der ganze übrige Inhalt des ersten Bandes ist die Arbeit des verstorbenen Professors G. Baur zu Leipzig und bietet in angemessener Gestalt das Beste, was nach dem heutigen Stande der Forschung möglich war. Das Werk erscheint fort unter Leitung G. Schmids zu St. Petersburg, eines Sohnes des Begründers. Vom zweiten Bande ist 1889 die zweite Hälfte zuerst erschienen. Sie umfaßt die Wende vom Mittelalter zur neuern Zeit und enthält drei selbständige, dankenswerte Arbeiten: 1) Erziehung und Unterricht im Zeitalter des Humanismus von K. Hartfelder (Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, England); 2) die Reformation von E. Gundert (Vorbereitung, deutsche, schweizerische Reformation); 3) die vier großen protestantischen Rektoren des 16. Jahrh. und ihre Schulen von G. Schmid (Val. Friedland-Trotzendorf, J. ^[Johannes] Sturm, M. Neander, Hieron. Wolf).

Die zwischen den beiden erschienenen Teilen des großartig angelegten Schmidschen Werkes noch klaffende Lücke füllt (der Zeit nach allerdings nur teilweise, aber sonst in meisterhafter Weise) aus F. A. Specht, »Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland bis in die Mitte des 13. Jahrh.« (Stuttg.