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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Pädagogische Litteratur 1880-90

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Pädagogische Litteratur 1880-90 (praktische Pädagogik).

len Fakultäten zu sein. »Nur das Gabelsystem, nach welchem der fremdsprachliche Unterricht in den untern Klassen mit dem Französischen und dann mit dem Englischen, unter Umständen wohl auch in umgekehrter Ordnung beginnt, dieser neusprachliche Unterricht auch durch die ganze Anstalt geht, in Tertia (4. Jahr der höhern Lehranstalten, 7. der allgemeinen Schulpflicht, 13. Lebensjahr) aber die letztere durch den Zutritt des Lateinunterrichts für künftige Studierende bereits eine gymnasiale Seite empfängt, um endlich von Obersekunda ab entweder Gymnasium, d. h. Vorschule für Universitätsstudien, oder Realschule, d. h. höhere Bildungsstätte für Nichtstudierende, zu sein, thut allen verständigen Forderungen Genüge.« Also in den untersten drei Jahrgängen durchaus gemeinsamer Unterricht für alle (Unterbürgerschule), in den folgenden drei Jahren für künftige Gymnasiasten die Möglichkeit nebenbei die Grundlagen im Lateinischen und Griechischen zu gewinnen, in den letzten drei Jahren volle Trennung des Gymnasiums von der Oberbürger- (Oberreal-) Schule.

Unbillig wäre es jedoch, nur die beiden Extreme zu beachten und zu übersehen, daß auch die Vertreter des Realgymnasiums, mag man es immerhin der Grundanlage nach für eine Miß- und Mischbildung, dem alten Vorurteil für das Latein zuliebe entstanden, erklären, an der gemeinsamen Arbeit für die praktische Pädagogik sich eifrig beteiligt haben. Als einer der bedeutendsten unter den Vertretern dieser Gruppe sei hier neben dem oben erwähnten Historiker Paulsen der Praktiker W. Munch genannt, der nicht bloß mit seiner mehr fachwissenschaftlichen Schrift: »Zur Förderung des französischen Unterrichts, insbesondere an Realgymnasien« (Heilbr. 1883), sondern ganz besonders mit seinen »Vermischten Aufsätzen über Unterrichtsziele und Unterrichtskunst« (Berl. 1888) ehrende Würdigung auch in weitern pädagogischen Kreisen zu erringen gewußt hat. Er verbirgt nicht, daß er nach einer gewissen Verschiebung des unsre höhern Schulen jetzt beherrschenden Bildungsideals trachtet und zwar im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Anschauungen der Zeit und mit wichtigen Bedürfnissen des lebenden Geschlechts. Aber diese Reformgedanken können niemand verletzen. Sie wurzeln in der begeisterten Hingabe an die höchsten Ideale des Erziehungsberufs, nach denen auch das Kleine und Geringe jederzeit bewußt zu gestalten, an dem das Überkommene und Gewohnte mit selbständigem Blicke zu prüfen ist. Die Hauptaufgabe des Unterrichts ist und bleibt zu erziehen. Wenn das anerkannt ist, so darf nach Münch vor allem die Gegenwart nicht über gelehrter Vorliebe für unwiederbringlich entschwundene Zeiten versäumt werden. »Vaterlandsliebe als Ziel des erziehenden Unterrichts«, das ist sein erstes, »Zusammenschluß aller Fäden des erziehenden Unterrichts im evangelischen Religionsunterricht«, das sein letztes Wort. Geweckt vom mahnenden Rufe der Zeit, aber nicht bestimmt, im lauten Kampfe der Parteien eine Rolle zu spielen, ist das große und rasch zu verdientem Ansehen emporgestiegene Unternehmen von K. Rethwisch: »Jahresberichte über das höhere Schulwesen« (Berl., seit 1886), an denen Gymnasial- und Reallehrer in friedlichem Verein arbeiten. Zwar fehlte es auch zuvor an fortlaufenden und jährlichen Berichten über den Fortschritt der einzelnen Schulwissenschaften nicht. Die Bursianschen, von J. ^[Johannes] Müller fortgesetzten Berichte berühren sich vielfach mit dem höhern Schulwesen, und die in etwas knapperm Rahmen gehaltenen Berichte der Berliner »Zeitschrift für Gymnasialwesen« schließen sich diesem noch enger an. Aber bei Rethwisch tritt alles unter den Gesichtspunkt der praktischen Pädagogik und dient darum, auch wo zugleich die Liebe zur Fachwissenschaft mitspricht, der Unterrichtspraxis ganz unmittelbar.

Volksschulpädagogik.

In den eben angeführten »Jahresberichten« ist für das höhere Schulwesen ein Organ entstanden, wie es das deutsche Volksschulwesen lange, bis zum Jahre 1882 sogar doppelt besaß. Bis zu diesem Jahre gab L. W. Seyffarth mit einer Anzahl bewährter Schulmänner heraus die »Allgemeine Chronik des Volksschulwesens« (seit 1865), deren erster Teil die geschichtliche Bewegung auf dem Gebiete des Volksschulwesens und die statistischen Verhältnisse in allen kultivierten Ländern und Staaten der Erde zu verfolgen versuchte, und deren zweiter Teil der litterarischen Bewegung des betreffenden Jahrganges gewidmet war. Das Eingehen des Unternehmens mußten auch diejenigen bedauern, die mit seiner politischen und kirchlichen Richtung nicht überein stimmten. Zwei Jahrzehnte fast älter ist der von Nacke (1846) begründete »Pädagogische Jahresbericht«, der sich unter dessen und Lübens Leitung (bis 1874) in Ansehen erhalten hatte und unter Fr. Dittes' Redaktion mit ungeschwächter Lebenskraft in das 9. Jahrzehnt des Jahrhunderts übertrat. Ein starker Band von 50-60 Bogen Umfang bringt jährlich aus der Feder bewährter Fachmänner Anzeigen und Urteile über alle irgend bedeutendern Erscheinungen der allgemeinen pädagogischen und der Volksschullitteratur einschließlich der Heilpädagogik, der Stenographie und der Jugendschriften, sowie ausführliche Übersichten zur Entwickelungsgeschichte der Schule in Deutschland, Österreich, Ungarn und der Schweiz. Mit dem Jahrgang 1885 trat Dittes, der neben der Schriftleitung und schon ein Jahrzehnt vor dieser den Abschnitt für die Pädagogik als scharfsinniger und scharfer Kritiker verwaltet hatte, von dem Unternehmen zurück, dessen Leitung der als Mitarbeiter längst bewährte Leipziger Schuldirektor Alb. Richter übernahm. Letzterer behielt zwar sein bisheriges besonderes Fach, die deutsche Litteraturkunde, bei, gewann aber in dem bereits oben erwähnten Schulrat W. Ostermann einen tüchtigen Nachfolger für Dittes im Gebiete der Pädagogik. Der »Jahresbericht« ist als Fundgrube für die pädagogische Bewegung der Gegenwart um so wichtiger, da weder in dem Abschnitt für Pädagogik noch in den geschichtlich-statistischen Übersichten die Schranken des Volksschulwesens engherzig innegehalten, auch in der Übersicht über das deutsche Schulwesen die wichtigsten Thatsachen der ausländischen Schulgeschichte kurz angeführt werden. Dennoch ist gerade in letzterer Hinsicht der bedauerliche Ausfall der Volksschulchronik nicht völlig gedeckt.

Wenn man nach dem »Jahresbericht« die Volksschullitteratur des letzten Jahrzehnts verfolgt, so kann man nicht ganz in das harte Urteil einstimmen, das Dittes wiederholt über diese fällte. Ihm erschien von vornherein das Vorherrschen der Herbartschen Richtung als ein Zeichen des Niederganges. Allein man braucht nicht Herbartianer zu sein und nicht gewillt, sich den kulturhistorischen Stufen zu bequemen, um doch einem Werke wie der »Theorie und Praxis des Volksschulunterrichts« von Rein, Pickel und Scheller (Dresd. 1879-85, 8 Bde.; 4. Aufl. 1888) hinsichtlich des idealen Strebens und der darin niedergelegten reichen Erfahrung gerecht zu werden. Auch kommt doch ein guter Teil der oben besprochenen Litteratur der philosophischen und historischen Pädagogik auf