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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Psychologie

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Psychologie (Methoden).

Metaphysik als Wissenschaft besteht nicht, und Deduktion führt niemals zu einer Thatsachenkenntnis und Gesetzeserkenntnis. So hat denn diese Methode und mit ihr die ganze sogen. rationale P. allmählich viel von ihrem einstigen Ansehen eingebüßt.

2) Die introspektive Methode. Sie sucht die psychischen Thatsachen in der innern Wahrnehmung aufzufassen und ist zuerst von Maine de Biran, nicht von Locke, der auch ethnographische Daten verwertet, angewendet worden. Auf sie haben dann Cousin und Jouffroy eine völlig subjektive P. aufzubauen versucht. Ihre Mängel ruhen darin, daß a) das Gebiet der eignen Beobachtung mit dem Bewußtseinsumkreis zusammenfällt, also sehr eng ist; b) der Ablauf innerer Zustände durch die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit gestört und getrübt wird. Comte hat sogar die Unmöglichkeit dieser Methode behauptet, weil es unmöglich sei, sich in ein Beobachtendes und Beobachtetes zu zerspalten; in Wirklichkeit jedoch lassen sich gewisse Vorgänge, z. B. Schmerzen, ohne Beeinträchtigung ihrer Stärke und Beschaffenheit auffassen, und in der Erinnerung besitzen wir ein zweites, ganz brauchbares Hilfsmittel. Die innere Erfahrung überhaupt, nicht als besondere Methode, sondern als allgemeine Thatsache verstanden, bildet die Voraussetzung der gesamten P.

3) Die beobachtende Methode, unter welcher wir die Beobachtung andrer mit Ausschluß der Selbstbeobachtung verstehen. Sie gründet sich auf den Analogieschluß, daß die bei mir mit bestimmten innern Vorgängen verknüpften Äußerungen, wenn sie bei andern auftreten, ähnliche psychische Zustande bei jenen zur Grundlage haben werden. Sie ist demnach abhängig a) von der Beschaffenheit des eignen Seelenlebens, b) von der richtigen Auffassung der bei andern auftretenden Zeichen, c) von der Größe der Verwandtschaft des andern (erwachsener normaler Mensch, Geisteskranker, Naturmensch, Kind, Tier) mit uns. Indirekt wird sie angewendet, wenn an Stelle der eignen Wahrnehmung das Zeugnis von Mittelspersonen tritt, und so ermöglicht sie die höhere historische Kritik und die Biographie.

4) Die genetische Methode. Da die psychischen Prozesse, soweit sie sich in uns und unsersgleichen abspielen, das zusammengesetzte Produkt einer sehr langen Entwickelung darstellen, entsteht die Aufgabe, diese Entwickelung in ihren einzelnen Stadien anzuzeigen. Anfangend von dem ersten Auftreten des Psychischen auf der Erde, muß die genetische Methode die Steigerung der Seelenthätigkeit durch die gesamte Tier- (Pflanzen-?) und Menschenwelt hindurch verfolgen, oder anderseits für die Individualpsychologie die analytisch gefundenen einfachen Elemente als solche herausstellen und synthetisch so lange zusammensetzen, bis wiederum die unmittelbar gegebene Komplikation vorliegt. Die genetische Methode ist auch in der P. ebenso wie in vielen Naturwissenschaften die am wenigsten durchgebildete, dem Darwinismus zum Trotz. Mit ihr unlöslich verbunden ist

5) die vergleichende Methode. Nur durch ausgedehnte Vergleichung wird ein Überblick über die Gesamtheit des Seelenlebens ermöglicht und ein Verständnis für die Stellung der einzelnen psychischen Funktionen zu einander angebahnt. Ganz zweckmäßig bedient man sich daher neuerdings auch

6) der statistischen Methode. Die Frage z. B. nach dem Umfang, in welchem diese oder jene Charaktereigentümlichkeiten sich vererben, oder die Frage nach der Häufigkeit, mit der bestimmte Halluzinationen auftreten, läßt sich nur auf Grund einer Statistik annähernd beantworten. Von verhältnismäßig geringer Brauchbarkeit ist

7) die mathematische Methode. Unter der Voraussetzung, daß die psychischen Phänomene wie alles in der Welt den Naturgesetzen unterliegen und daher auch mathematisch ausgedrückt (nicht bloß gemessen) werden können, spricht die Herbartsche Schule von einer Statik und Mechanik der seelischen Vorgänge und wendet die allgemeinen Formeln der Statik und Mechanik der in Wechselwirkung stehenden elementaren Bestandteile der Materie (Atome) in modifizierter Gestalt auf die in Wechselwirkung befindlichen elementaren Bestandteile des Bewußtseinsinhaltes (Empfindungen) an. Unter den Jetztlebenden versuchen namentlich Steinthal und Glogau in der P., ähnlich wie in der Algebra, mathematische Gesetzmäßigkeiten, losgelöst von jedem individuellen Inhalt und dadurch zugleich in allgemeiner Gültigkeit darzustellen, wobei sie die apperzeptive Freithätigkeit des Geistes teilweise ausscheiden. (Vgl. Glogau, Steinthals psychologische Formeln, Berl. 1876.)

8) Die experimentelle Methode macht es sich zur Aufgabe, den Kreis des Gegebenen dadurch zu erweitern, daß sie künstlich gewisse Bedingungen wandelt und die abweichende Wirkung beobachtet. Sie registriert nicht bloß, was die Natur uns gerade bietet, sondern sie greift selbständig ein. Ihre höchsten Triumphe feiert diese Methode in der Psychophysik (s. d.); indessen umspannt sie ein viel weiteres Gebiet, denn schon der einfachste Versuch mit sich selbst oder irgend einem andern gehört ihr an. Man kann nun zwei Unterarten innerhalb der experimentellen Methode unterscheiden: a) die rein experimentelle. Sie beschränkt sich auf die planmäßige Abänderung der Bedingungen, unter denen ein psychischer Akt sich vollzieht, indem sie beispielsweise einen und denselben Schmerz zu Zeiten der Ermüdung, Erregtheit etc. hervorruft und seine Abhängigkeit von den genannten und andern Faktoren feststellt. Ihre Grenze liegt in der Schwierigkeit, einen einzelnen Empfindungskomplex beim Wechsel aller übrigen unverändert fortbestehen zu lassen, oder umgekehrt ein einzelnes Aggregat aus dem lebendigen Seelenzusammenhang herauszulösen, zu variieren und in die gleiche Umgebung zurückzusetzen. Immerhin vermag sie, besonders mittels der in der Hypnose gegebenen Dissociation des Bewußtseins, in ähnlicher Weise Versuche einer, man möchte sagen seelischen Vivisektion vorzunehmen, wie sie der Physiolog am lebendigen Körper anstellt. Das Wesen positiver und negativer Halluzinationen, das Erwirken großer psychischer Komplexe durch eine eingepflanzte (suggerierte) Vorstellung, das Ineinandergreifen verschiedener Bewußtseinssphären, das schwierige Problem der Persönlichkeit u. dgl. ist solcherart experimentell untersucht worden. b) Die numerische Experimentalmethode. Sie fügt zu dem reinen Experiment ein ursprünglich und notwendigerweise nicht in ihm liegendes Moment, nämlich die zahlenmäßige Messung, hinzu, erhebt aber durch diese mathematische Legitimation den Versuch zu einem exakt fixierbaren. Die öfters geltend gemachten Bedenken: daß es kein festes Maß für psychische Vorgänge (z. B. eine Schmerzeinheit) in demselben Sinne gebe, wie das Meter ein Maß für Längen sei, daß man ein etwa gefundenes Maß nicht anlegen, und daß man seelische Zuständlichkeiten nicht deponieren könne, um sie später mit andern numerisch zu vergleichen, diese Bedenken beziehen sich bloß auf ein Messen des Seelischen am Seelischen. Jedoch unterliegt es keinem