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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Religionswissenschaft

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Religionswissenschaft (vergleichende).

der Vergleichung der Religionssysteme verwandter Völker ausgegangen, und namentlich hat die von A. Kuhn und Max Müller begründete vergleichende Mythologie durch Ausscheidung der den verschiedenen indogermanischen Sprachen gemeinsamen Götternamen den Götterglauben der indogermanischen Urzeit festzustellen gesucht. So läßt sich ein indogermanischer Himmelsgott erschließen aus der Übereinstimmung des griechischen Zeus mit dem indischen Dyaus, Himmel, Himmelsgott, latein. Ju-ppiter, german. Tiu, Zio. Nicht minder stimmen die Bezeichnungen der Sonne, der Morgenröte, des Mondes, der Sterne, des Donners und andrer Naturerscheinungen in den indogermanischen Sprachen überein; und man kann hieraus auf einen Naturdienst der Urzeit schließen. Auch für die Art der Verehrung, die man diesen göttlichen Wesen (deus, ind. devas) erwies und für die Anfänge einer Priesterkaste sind manche sprachliche u. kulturhistorische Anhaltspunkte vorhanden. Spezielle Vergleichungen zwischen der griechischen und römischen Mythologie, wofür allerdings die Hypothese von einer engern vorgeschichtlichen Einheit der Griechen und Römer die Voraussetzung bildet, unternahm W. Roscher in seinen Schriften »Apollon und Mars« (Leipz. 1873), »Juno und Hera« (das. 1875), »Nektar und Ambrosia« (das. 1883) u. a. Allgemein anerkannt ist der sehr enge historische Zusammenhang zwischen der indischen und persischen Religion, der sich in der übereinstimmenden Bezeichnung nicht nur vieler Götternamen, sondern auch der wichtigsten Opfer und andrer Kulthandlungen, der Priester etc. deutlich zeigt. (Vgl. Spiegel, Die arische Periode und ihre Zustände, Leipz. 1887.) Die Anwendung der Methode der vergleichenden Mythologie auf die Religionsgeschichte der semitischen Völker hat zu dem Ergebnis geführt, daß auch bei diesen Völkern ursprünglich ein Naturdienst bestand, der sich aber kaum über den bei den vormohammedanischen Arabern noch nachweisbaren, durch die Anbetung von beseelten Steinen, Bergen und Bäumen charakterisierten rohen Fetischismus erhob. Besonders wichtig für die semitische Religionsgeschichte ist die Entzifferung der assyrischen Keilschriftendenkmäler als der ältesten Überreste der religiösen Litteratur eines semitischen Volkes geworden. So hat sich z. B. der Name des mohammedanischen Allah (aus al-Ilah) als ein ursemitischer Göttername ergeben, assyrisch Ilu, hebräisch Êl. Auch die Mythologie der finnisch-tatarischen Völker enthält manche gemeinsame Züge, namentlich stimmen die Sagen des finnischen Epos »Kalewala«, deren Mittelpunkt die Abenteuer der drei göttlichen Schmiede Wainämoinen, Ilmarinen und Lemminkainen bilden, mit dem Inhalt des esthnischen Volksepos »Kalewipög« genau überein. Auch die aus den Keilinschriften bekannten Mythen der alten Akkadier sind mit diesem Sagenkreis, namentlich mit den Mythen der Wogulen am Ural, verglichen worden. Der Glaube an Zauberei und Fetische ist bei allen uralaltaischen Stämmen tief eingewurzelt. Max Müller in seiner »Einleitung in die vergleichende R.« (Straßb. 1874) versuchte sogar eine gemeinsame Urreligion der Finnen, Mongolen und Chinesen zu konstruieren. In sich abgeschlossene Sagenkreise finden sich auch bei den Polynesiern, mehreren Gruppen der nordamerikanischen Indianerstämme, den Hottentoten u. a. Die Ergebnisse der vergleichenden Mythologie haben allerdings auch manche Anfechtungen erfahren. So behauptete schon Schwartz, die eigentliche Grundlage der Sagenbildung sei in der noch jetzt im Volke lebendigen niedern Mythologie zu suchen, die schon vor der Götter- und Heldensage der klassischen Völker existiert habe und keineswegs mit Grimm u. a. als ein Nachhall derselben anzusehen sei. Mannhardt, der verdienstvolle Sammler deutscher Volkssagen und -Märchen, entdeckte in denselben eine überraschende Verwandtschaft mit der griechischen Volksmythologie, die von der Mythologie der Gebildeten wohl zu unterscheiden sei; er fand in den Moosleuten und Holzfräulein die Dryaden, in den wilden Männern die Kyklopen, Kentauren, Satyrn u. dgl. der Griechen wieder und erkannte in solchem Geisterglauben die Keime, aus denen selbst die erhabensten Gestalten des Götterglaubens der indogermanischen Völker hervorgegangen seien. Auch Elard Hugo Meyer, der Herausgeber von J. Grimms »Deutscher Mythologie«, sieht in dem Volksaberglauben der Gegenwart eine in höheres Altertum hinaufreichende Urkunde als in den Hymnen der indischen Wedas und sucht die Ähnlichkeit zwischen einer Reihe griechischer und indischer Götter aus paralleler Entwickelung der in dem Glauben der Urzeit an Windgeister, Gewitter- und Regendämonen gegebenen Grundlagen zu erklären. Vgl. Schwartz, Der Ursprung der Mythologie (Berl. 1860) und Indogermanischer Volksglaube (das. 1885); Mannhardt, Wald- und Feldkulte (das. 1875-77, 2 Bde.); Elard Hugo Meyer, Indogermanische Mythen (das. 1883 bis 1887, 2 Bde.). Noch weiter ging Gruppe in dem geistvollen Werke: »Die griechischen Kulte und Mythen« (Leipz. 1887), welches den Versuch enthält, die Übereinstimmung in den ältesten Religionsvorstellungen der europäischen Kulturvölker und der Inder und Perser aus einer vorhistorischen Entlehnung vorderasiatischer und ägyptischer Religionsvorstellungen zu erklären. Doch ist den Vertretern der Geistertheorie entgegenzuhalten, daß die Volksmärchen einer fortwährenden Umformung unterliegen, an der auch die bewußte Einwirkung einzelner und die Übertragung fremder Vorstellungen einen starken Anteil hat, und daß von dem reinen Spiele der Phantasie, das in den Produkten der Märchenerzähler waltet, keine Brücke hinüberführt zu der Göttersage, welche ein Teil der Religion ist. So beachtenswert die volkstümlichen Überlieferungen (»Folklore«) an und für sich sind, deren Sammlung gegenwärtig in den verschiedensten Ländern Modesache ist, so vermögen dieselben doch die Übereinstimmung z. B. zwischen der griechischen und indischen Götterlehre nicht zu erklären. Ebensowenig kann dieselbe auf eine gemeinsame Entlehnung von ältern Kulturvölkern zurückgeführt werden. Vgl. Schrader, Sprachvergleichung und Urgeschichte (2. Aufl., Jena 1890).

Besonders wichtig für die Grundfragen der vergleichenden R. ist die richtige Beurteilung der Religionsvorstellungen der Naturvölker, um die sich namentlich die Ethnologen und Anthropologen sowie einzelne Religionsphilosophen, Sprachforscher und Philologen verdient gemacht haben. Ist, wie auch die Bibel sagt, die Furcht Gottes der Ausgangspunkt aller religiösen Erhebung, so scheint bei den Naturvölkern insbesondere die Furcht vor den Toten und vor dem Tode häufig am Anfang der Religionsentwickelung zu stehen. So verlassen die tibetischen Leptscha und die Betschuana und Hottentoten in Südafrika jede Wohnung, in der ein Todesfall vorfällt, ja die Kaffern schleifen einen dem Tode nahen Greis aus der Hütte hinaus und werfen ihn abseits weg. So ließen auch die Kariben in Mittelamerika die Kranken im Stich aus Furcht vor dem Geiste, von dem man sie für besessen hielt. Die Scheu vor den Toten und die Art