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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Serbien

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Serbien (Geschichte).

nannten waren nur 5 nicht radikal, so daß diese Partei im Staatsrat die Mehrheit hatte. Da mehrere Minister in den Staatsrat eintraten, so fand im April 1890 eine Neubildung des Ministeriums statt, an dessen Spitze Gruitsch als Ministerpräsident, Minister des Äußern und des Kriegs blieb. Ende April wurden die Sitzungen der Skuptschina geschlossen, und eine Botschaft der Regenten rühmte ihr nach, daß sie durch Sparsamkeit das Budget auf solidere Grundlage gestellt, das Defizit herabgemindert und durch Rückkauf der Monopole sowie durch den Steuerzuschlag für Bewaffnungszwecke die Staatseinkünfte erhöht habe. Die geplante Heeresreform hatte die Skuptschina nicht vollendet, indes durch mehrere Änderungen des Heeresgesetzes die von den Radikalen von jeher erstrebte Umgestaltung der Nationalmiliz durchgeführt. Dieselbe bildete neben dem regulären Heer die Hauptstreitmacht Serbiens, zerfiel in zwei Aufgebote, von denen das erste jährlich höchstens 30, das zweite höchstens 10 Tage einberufen wurde, und ihre Verpflegung in dieser Zeit fiel ebenso wie die Stellung der Pferde und des Trains den Wehrpflichtigen oder den Gemeinden zur Last; die Offiziere des zweiten Aufgebots wurden mit Ausnahme der höhern Befehlshaber aus der Miliz entnommen. Weitere tiefgreifende Reformen in radikalem Sinn wurden der Herbstsession der Skuptschina vorbehalten. Von Garaschanin, dem Führer der Fortschrittspartei, die nach ihrer gewaltsamen Unterdrückung im Mai 1889 sich erst jetzt wieder zu regen wagte, wurde der radikalen Regierung diese Verschiebung der Reformen zum Vorwurf gemacht und ihr Gewissenlosigkeit und Gewaltthätigkeit schuldgegeben. Die Lasten des Volkes hatten sich allerdings unter der radikalen Ära noch nicht verringert, die Unzufriedenheit in allen Schichten Serbiens war so groß wie früher, und so strengten die Liberalen und Fortschrittler alle Kräfte an, um bei den Neuwahlen für die Skuptschina (Ende September) eine größere Zahl von Mandaten zu erobern. Indes hatte die radikale Regierung alle Beamtenstellen mit ihren Anhängern besetzt, und wenn diesen auch meist die nötige Vorbildung und Erfahrung, manchmal auch die erforderlichen moralischen Eigenschaften abgingen, so hatten sie doch die Macht und waren entschlossen, sie rücksichtslos im Interesse ihrer Partei zu gebrauchen. Die Wahlen fielen denn auch ganz zu gunsten der Radikalen aus; nur 17 Liberale und 2 Fortschrittler wurden gewählt.

In der auswärtigen Politik wünschten die Radikalen einen Umschwung gegenüber der österreichfreundlichen Haltung des Königs Milan. Dessen Politik war ja keineswegs reich an Erfolgen, dagegen wohl an Enttäuschungen gewesen. S., das sich früher unter den slawischen Staaten der Balkanhalbinsel zur Führerschaft berufen geglaubt hatte, mußte es erleben, daß Bosnien und die Herzegowina auf dem Berliner Kongreß an Österreich überliefert wurden, dann Bulgarien sich mit Ostrumelien vereinigte und damit das zahlenmäßige Übergewicht über S. erhielt, und der serbisch-bulgarische Krieg mit einem Siege dieses Nebenbuhlers endete. Die Radikalen schrieben diese Ergebnisse der österreichischen Freundschaft zu und glaubten durch die russische Freundschaft bessere erzielen zu können. Sie knüpften daher mit dem Petersburger Hof wieder engere Beziehungen an, indem ihr Führer Paschitsch, Präsident der Skuptschina, sich wiederholt nach Petersburg begab und die Sendung von Waffen und Munition erwirkte. Die radikale Presse stellte sich ganz auf den panslawistischen Standpunkt und griff Österreich-Ungarn in schärfster Weise an. Die wirtschaftlichen Beziehungen zu dem Nachbarland wurden erschwert, die Einfuhr rumänischen Getreides und Viehs durch S. in Österreich-Ungarn, um die von diesem gegen Rumänien eingeführten hohen Zölle zu umgehen, begünstigt. Die österreichische Regierung gab ihre Unzufriedenheit hiermit zu erkennen, indem Kalnocky im Juni 1890 in seiner Rede in den Delegationen sich über S. beschwerte und die ungarische Regierung die Schweineausfuhr aus S. verbot. Die serbische Regierung versicherte in lebhafter Weise ihre Unschuld und ihren aufrichtige Wunsch, die freundschaftlichen Beziehungen zur Nachbarmonarchie aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig versuchte sie aber, sich über Saloniki einen von Österreich unabhängigen Weg für ihre Ausfuhr an Schweinen und Getreide zu eröffnen, was jedoch nicht gelang. Gleichzeitig erlitt S. einen empfindlichen Schlag durch den Berat des Sultans, der drei bulgarische Bischöfe in Makedonien ernannte und in diesem Lande den serbischen Einfluß zurückdrängte, was man dem Einfluß Österreichs und seiner Verbündeten in Konstantinopel zuschrieb. Daher suchte sich die Regierung Österreich wieder zu nähern, um wenigstens die Aufhebung des Schweineausfuhrverbots zu erlangen. Dies glückte endlich auch, indem die ungarische Regierung nur auf einigen Vorsichtsmaßregeln bestand, welche S. gern bewilligte. Bei der Feier zur Eröffnung der Arbeiten am Eisernen Thor Ende September (s. Donau) wurde die Wiederherstellung der freundlichen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und S. von beiden Seiten konstatiert.

Die neugewählte Skuptschina wurde 19. Nov. 1890 mit einer Thronrede eröffnet, welche unter dem Eindruck dieser letzten Ereignisse die Regierung beglückwünschte, daß das vertragsmäßige Verhältnis zu Österreich, mit welchem S. Beziehungen der Freundschaft und guter Nachbarschaft zu unterhalten wünsche, wieder in Kraft gesetzt werde. Dem gegenüber hielt es die radikale Mehrheit für notwendig, in der Antwortsadresse auf die Thronrede dem erhabenen Kaiser des russischen Brudervolkes den immerwährenden tiefgefühltesten Dank des serbischen Volkes auszusprechen; der Kaiser habe, wie immer, so auch in neuester Zeit Beweise seines Wohlwollens für S. und das serbische Volk gegeben. Der Budgetentwurf veranschlagte die Gesamtausgaben auf 57,690,600, die Gesamteinnahmen auf 54,554,000 Dinar, den Fehlbetrag also auf 3,136,900 Dinar; doch wurde derselbe von Sachverständigen weit höher geschätzt, so daß neue Steuern und neue Anleihen unvermeidlich erschienen. Da dies den Träumen der Radikalen von großen Ersparnissen und der Möglichkeit der Steuerherabsetzung, wenn sie erst zur Herrschaft gelangt wären, wenig entsprach, so stieß das Budget in der Skuptschina auf Schwierigkeiten. Auch der Preßgesetzentwurf, den das Ministerium einbrachte, um den groben Beleidigungen und Herausforderungen Österreichs in der Presse entgegentreten zu können, wurde vom Ausschuß verworfen. Daher reichte im Februar 1891 das Ministerium Gruitsch seine Entlassung ein, und der Führer der Radikalen, Paschitsch, bildete 23. Febr. ein neues Kabinett, das aus rein radikalen Mitgliedern zusammengesetzt war. Dasselbe sprach in einem diplomatischen Rundschreiben den festen Willen aus, mit allen Staaten die freundschaftlichsten Beziehungen zu unterhalten und alle Kräfte der innern Konsolidierung des Landes zuzuwenden; nach Petersburg erging aber eine besondere Note mit der Versicherung, die Beziehungen zu Rußland sollten mit der altüberlieferten Freundschaft und Sympathie und mit den Dankgefühlen des