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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Tschechische Litteratur

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Tschechische Litteratur (Dichtung).

große illustrierte Wochenblätter und mehrere kleinere illustrierte belletristische und humoristische Zeitungen, drei mit wissenschaftlichem Ernst redigierte bloß kritische Monatsschriften und eine Unzahl von Fachjournalen für Wissenschaft und Technik. Die Zahl der jährlich erscheinenden tschechischen Bücher dürfte sich auf 2000 beziffern, die zum weitaus größten Teil auf Böhmen mit seinen nicht ganz 3 Mill. Einw. slawischer Zunge entfallen. Die litterarische Produktion Mährens ist bedeutend geringer, während Schlesien so gut wie gar nicht, Wien nur in geringem Maße in Betracht kommt.

Wie überhaupt bei jungen Nationen, nimmt auch in der tschechischen Litteratur die Poesie einen großen Raum ein. Den großen poetischen Stil, den im Anfang dieses Jahrhunderts Jungmann, Kolár, Celakovsky geschaffen haben, führen heute eine große Zahl talentvoller und schaffensfrendiger Dichter weiter. Den ersten Platz unter diesen nimmt unbestritten Jaroslaw Vrchlický (Emil Frida, geb. 1853) ein, dessen dichterische Veröffentlichungen bereits mehr als 40 Bändchen umfassen. Der Einfluß der deutschen Poesie ist im Vergleich zu früher bedeutend gesunken. Namentlich Vrchlický hat sich die Franzosen und Italiener zum Vorbild genommen, deren Dichterheroen (Dante, Tasso) er auch ins Tschechische übersetzt hat. Von seinen eignen Werken erinnern »Duch a svět« (»Geist und Welt«), »Mythy«, »Symfonie« an die philosophische Färbung der Victor Hugoschen Muse; das übrige ist meistenteils Lyrik. Seine Sprache ist schwungvoll und bilderreich, die Reimtechnik beherrscht er meisterhaft. Mit ihm wetteifert an Beliebtheit der kaum weniger phantasievolle und sprachgewaltige Swatopluk Čech (geb. 1846), der mehr Epiker als jener ist. »Václavz Michalovic« und »Dagmar« sind epische Gemälde aus Böhmens Vergangenheit, »Europa« und »Slávia« große symbolische Gedichte, welche die Zukunft Europas und des Slawentums behandeln. »Ve stínu lipy« (»Im Schatten der Linde«) enthält moderne Idylle. Der Hauptvertreter des tschechischen Realismus ist Johann Neruda (geb. 1834), vorzugsweise Satiriker und Humorist. »Kosmické písně« (»Kosmische Lieder«) enthalten naturphilosophische Betrachtungen, »Kniha veršu« (»Das Buch der Verse«) vermischte Gedichte. Adolf Heyduk (geb. 1835) hat unter den lebenden Dichtern am meisten national-slawischen Geist in sich aufgenommen. »Ruže povážská« (»Die Rose vom Waagthal«), »Dědkuv odkaz« (»Des Großvaters Vermächtnis«), »Na vlnách« (»Auf den Wellen«) sind liebliche Idylle in leichten, sangbaren Liedern. Josef Sládek (geb. 1845) besitzt ein anmutiges, lyrisches Talent, seine Sprache ist mehr kernig-kraftvoll als bilderreich. »Na prahu ráje« (»An der Schwelle des Paradieses«) ist eine Sammlung herrlicher Sonette, »Selské písně« (»Bauernlieder«) sind scharf zugespitzte Gedichte im Volkston. Julius Zeyer (geb. 1841) ist wohl der Hauptromantiker unter den lebenden tschechischen Dichtern. Seine meist epischen Stoffe sind größtenteils dem Mittelalter entlehnt. Sein Hauptwerk, der Epencyklus »Vyšehrad«, entrollt farbenreiche Bilder aus der böhmischen Geschichte. Eliška Krásnohorská (Pechova) behauptet den Vorrang unter den ziemlich zahlreichen tschechischen Dichterinnen. Ihren Gedichtsammlungen »Z máje žití« (»Aus des Lebens Mai«) und »K slovanskémn jihu« (»Aus dem slawischen Süden«) muß eine blühende, melodische Sprache nachgerühmt werden. Diesen Hauptvertretern der tschechischen Poesie eisern eine Menge jüngerer Talente nach, von denen namentlich Mužík, Machar, Kaminský entschiedenes Talent verraten. Eine eigne Dichterschule mit katholischer Tendenz ist in den klerikalen Revuen »Vlast« (»Vaterland«) und dem mährischen »Obzor« (»Rundschau«) vertreten. Pohunek, Pakosta, Stastný dürften die namhaftesten Vertreter dieser Schule sein.

Die tschechische dramatische Poesie hat mit der Erbauung eines prächtigen Nationaltheaters in Prag nicht die von den Patrioten erhofften Fortschritte gemacht, ist aber nicht arm an einem selbständigen Repertoire und an schaffensfreudigen Talenten. Der Nestor der tschechischen Dramatiker ist der 1812 geborne Josef Kolár, früher selbst ein hervorragender Schauspieler. Von seinen zahlreichen dramatischen Arbeiten, lauter Repertoirestücken, dürfte das Trauerspiel »Magelona« aus Rudolfs II. Zeit das bedeutendste sein. Emanuel Bozdèch (geb. 1841), ein den Franzosen nacheifernder geistvoller Dramatiker, dessen Lustspiel »Z dob Cotilionu« (»König Kotillon«) auch auf deutschen Bühnen zur Aufführung gelangte, ist wahrscheinlich durch Selbstmord gestorben, ohne daß man bisher seinen Leichnam gefunden hätte. Von Franz Jeřábeks (geb. 1836) dramatischen Schriften sind die meisten Repertoirestücke. Das soziale Drama »Služebuík svèho Pána« (»Der Diener seines Herrn«) und das historische Stück »Syn člověka« (»Der Sohn eines Menschen«) werden für die besten gehalten. Wenzel Vlcěk hat ebenfalls eine Reihe Historienstücke geschrieben, von denen »Milada« und »Lipany« öfters gegeben werden. Sehr viel Sympathien hat sich Ladislav Stroupežnický, der Dramaturg des Nationaltheaters, durch seine in altböhmischer Mundart geschriebenen Lustspiele erworben, so »Zvykovský rarášek« (»Der Teufelsbub von Klingenberg«) und »Paní mincmistrová« (»Die Frau Münzmeisterin«). Zu den bedeutendern tschechischen Dramatikern gehört auch der oben genannte rastlos thätige Jaroslav Vrchlický. Sein historisches Lustspiel »Noc na Karlštejñě« (»Eine Nacht auf Karlstein«) und das Trauerspiel »Drahomíra« wurden preisgekrönt. In der letzten Zeit haben der Direktor des Nationaltheaters Franz Subert in »Bauer Výrava« und Josef Stolba mit dem Stücke »Zàvět« (»Das Testament«) Beachtenswertes geleistet. Nicht ohne Erfolg haben auch Adámek Zákrejs, Pippich, Graf Kolovrat-Krakovský für das Nationaltheater gearbeitet. Der Schauspieler Ferdinand Šamberk pflegt mit viel Glück die Posse; Frau Marie Cervinka und die oben genannte Eliska Krásnohorská haben eine Anzahl Librettos zu Originalopern geschrieben.

Der Roman und die Novelle werden, wie überall, auch bei den Tschechen eifrig gepflegt, ohne daß jedoch bisher ein Werk von europäischer Bedeutung zu verzeichnen wäre. Den ersten Rang unter den lebenden tschechischen Romanciers nimmt eine Dame, Frau Karolina Světlá (Mužák), ein. Von ihren zahlreichen patriotischen Romanen dürften »Kříž u Potoka« (»Das Kreuz am Bache«) und »Zvonecková královna« die gelesensten sein. »Vesnický roman« (»Der Dorfroman«) wurde in der »Revue des Deux Mondes« ins Französische übersetzt. Der heute beliebteste Romancier ist Alojs Jirásek (geb. 1851). Eine Reihe fesselnder patriotischer Erzählungen: »Poklad« (»Der Schatz«), »Skaláci« (»Die Felsenbewohner«), entstammt seiner Feder; der Roman »V cizích Službàch« (»In fremden Diensten«) ist preisgekrönt. Wenzel Vlcěk, als Dramatiker schon genannt, hat ebenfalls eine Reihe vielgelesener Romane geschrieben, von denen »Ctibor Hlava« und »Samohrady« die bedeutendsten sein mögen. Zu den bessern Roman-^[folgende Seite]