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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Vorstellung

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Vorstellung (Reproduktionsgesetze).

Vorstellungsthätigkeiten nicht im mindesten gestört. Ebenso bei der amnestischen Paraphasie (Paragraphie), wo der sprechende (schreibende) Patient verkehrte Worte zum Ausdruck seiner Gedanken wählt, und bei der Worttaubheit (Wortblindheit), wo der Kranke wohl die Wörter als Klangzusammensetzungen hören (lesen) kann, aber ihrem Sinne nach nicht mehr versteht. Hierher gehören endlich die Fälle von sogen. Seelenblindheit (Seelentaubheit), in denen bei sonst unverletzter Intelligenz und Erinnerung die Reproduzierbarkeit aller Gesichts- (Gehörs-) Vorstellungen u. die Wirksamkeit der zwischen ihnen bestehenden Associationen stark beeinträchtigt ist (vgl. Gedächtnis).

Ebenso wie das Auftreten von Vorstellungen an physiologische Vorgänge geknüpft ist, ebenso ist es an psychologische Gesetze gebunden. Man bezeichnet diese Gesetze als Reproduktionsgesetze, nach denen vergangene Empfindungen oder Vorstellungen reproduziert werden, d. h. als Vorstellungsbilder in unserm Bewußtsein wieder auftauchen. Während sie physiologisch sich alle auf das Prinzip der Übung zurückführen lassen, müssen sie für die psychologische Betrachtung getrennt behandelt werden. 1) Gesetz der Koexistenz: Zwei gleichzeitig im Bewußtsein gewesene Vorstellungen neigen zu gegenseitiger Reproduktion (Geige - Bogen). 2) Gesetz der Succession: Von zwei unmittelbar aufeinander gefolgten Vorstellungen hat die erste bei ihrem Wiedereintreten meist auch die Reproduktion der zweiten zur Folge (Blitz - Donner). Nicht jedoch zieht umgekehrt das Wiederauftauchen der zweiten V. das der ersten nach sich; bei der Reproduktion von Vorstellungsresten erkennt man am leichtesten, daß wohl a die darauf folgende V. b etc. ins Gedächtnis zurückruft, aber nicht z x und so rückwärts bis zu a. Von Vorstellungen, welche im Verhältnis der Koexistenz oder Succession stehen, sagt man, sie seien miteinander associiert (s. Ideenassociation, Bd. 8). Die Festigkeit dieser Associationen unterliegt gleichfalls bestimmten Regeln. Ihr Stärkegrad ist abhängig a) von der Häufigkeit, mit der zwei Vorstellungen associativ verbunden reproduziert worden sind, b) von der Zeitdauer, die seit ihrer letzten gemeinsamen Reproduktion verflossen ist, c) von dem Aufmerksamkeits- und Interesseaufwand, der sie bei ihrer gemeinsamen Reproduktion zu begleiten pflegt, d) von der Entfernung, die zwischen zwei Vorstellungen liegt, sofern sie einer größern Vorstellungsreihe angehören, und e) von der Länge eben dieser Reihe. 3) Gesetz der Elimination: Wenn von drei aufeinander folgenden Vorstellungen bei wiederholter gemeinsamer Reproduktion die mittlere vernachlässigt zu werden pflegt, so kann sie schließlich ganz fortfallen und die dritte V. sich unmittelbar an die erste associieren. Dem Anfänger im Geigenspiel ruft die Note d'' zunächst die V. »dritte Lage« und dann die V. »vierter Finger« wach; bei fortschreitender Übung aber wird das Mittelglied ausgeschaltet und an die V. d'' sofort die V. »vierter Finger« associiert. Man spricht in diesem Sinne wohl auch von »lückenhaften Associationen«. 4) Gesetz der Synthese: Von den aufeinander folgenden Vorstellungen einer Reihe a b c d besitzt nicht nur die letzte die Tendenz, die an sie sich anschließende V. e wachzurufen, sondern auch der Vorstellungskomplex a b c d, zu einem reproduktionsfähigen Ganzen verschmolzen, kann als eine Synthese solcher Art die Angliederung von e zur Folge haben. Wenn demnach in andern Zusammenhängen sehr verschiedene Vorstellungen sich an d associiert haben, so wird doch beim Auftreten von d in der Synthese a b c d immer nur e reproduziert werden. Hieraus ergibt sich die praktische Regel, beim Auswendiglernen nicht die Gesamtheit der Worte nacheinander zu wiederholen, sondern kleinere Ganze herzustellen, an deren letzten Faktor sich dann stets der thatsächlich folgende als erster einer neuen Synthese mit Leichtigkeit associieren wird. 5) Gesetz der Substitution. A. Substitution durch Ähnlichkeit: Wenn im allgemeinen durch das Auftreten von V. a V. b reproduziert wird, so kann doch schon durch Auftreten der a nur ähnlichen V. α das Vorstellungsbild b wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Angenommen, es sei mit dem Anblick einer bestimmten Person zugleich die V. von seinen Bewegungs- und Spracheigentümlichkeiten verbunden, so wird bereits der Anblick des jener Person nur ähnlichen Porträts diese V. von seinen sonstigen Eigentümlichkeiten erwecken: »das Bild ist sprechend ähnlich« sagt man dann wohl. Im einzelnen sind zwei Fälle möglich. I. Der eben als Beispiel benutzte Fall: die a ähnliche V. α läßt die mit a verbundenen Vorstellungen b c... und so eventuell auch indirekt die V. a reproduziert werden. An α (das Porträt) wird d c... (Spracheigentümlichkeiten, Name ... des Dargestellten) vorstellungsmäßig angegliedert und so in α (dem Porträt) a (das Original) »wiedererkannt«. II. Die a ähnliche V. α läßt die den Vorstellungen b c... ähnlichen Vorstellungen β γ... reproduziert werden. Dann »erinnert« α an a. B. Substitution durch Kontrast: Wenn im allgemeinen durch das Auftreten von V. a V. b reproduziert wird, so kann doch auch durch Auftreten der a gerade entgegengesetzten V. a¹ das Vorstellungsbild b wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Während für gewöhnlich nur durch komische Vorgänge (a) die V. des Lachens (b) geweckt wird, kann manchmal durch gerade entgegengesetzte Vorgänge, z. B. durch eine Leichenfeier (a¹), die V. vom und der Reiz zum Lachen (b) entstehen. Die witzigen Impromptus beruhen meist auf der augenblicklichen Association kontrastierender Vorstellungen.

Abgesehen von den beiden letzten Unterfällen (5 A und B), ist es für die Bewährung der Reproduktionsgesetze gleichgültig, von welcher Beschaffenheit die dabei in Betracht kommenden Vorstellungen sind. Auch thut es den genannten Bestimmungen keinen Eintrag, ob die Reproduktion dieser oder jener Art willkürlich vorgenommen wird (»ich besinne mich«) oder Unwillkürlich erfolgt (»es fällt mir ein«, »es kommt mir in den Kopf«). Immerhin erschöpfen die Gesetze nicht die Mannigfaltigkeit des Vorstellungslebens, denn es ereignet sich auch, daß Vorstellungen ohne sichtbare Hilfe andrer Vorstellungen im Bewußtsein auftauchen (frei steigende Vorstellungen), und anderseits sind die Gesetze nicht bloß auf Vorstellungen beschränkt, sondern gelten gleicherweise für Empfindungen, Gefühle, Triebe in ihrem Verhältnis untereinander (ein Lustgefühl reproduziert leicht ein zweites), zu einander (ein Lustgefühl führt einen Trieb ins Bewußtsein zurück) und zu den Vorstellungen (die aktuelle Empfindung ruft eine verwandte V. wach). Dazu kommt, daß infolge der sogen. Enge des Bewußtseins (s. d.) die Befolgung der aufgezählten Prinzipien gewissen quantitativen Beschränkungen unterliegt. So entstehen folgende Vereinfachungen der Reproduktionsgesetze: 1) Verschiedene Tendenzen zur Erweckung einer bestimmten V. verschmelzen zu einer Tendenz. 2) Reproduzierte Vorstellungen treten sofort nach Erfüllung ihrer Aufgabe in den Zustand der Reproduktionsbereitschaft. 3) Associativ aufeinander folgende Vorstellungen dienen