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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Arbeiterschutzgesetzgebung (das deutsche Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891)

Artikel, auch in Bd. 17) durchgesetzt. Er war aber entschieden gegen die weitere Ausdehnung der A., gegen völlige Beseitigung der Kinderarbeit, gegen die staatliche Regelung der Arbeit der jugendlichen und weiblichen Personen, der Sonntags- und Nachtarbeit etc.; in allen diesen Betriebsverhältnissen wollte er weder der Industrie und den industriellen Unternehmern noch den Arbeitern gesetzliche Beschränkungen auferlegen. Er stand mit dieser Ansicht entgegen nicht nur den wissenschaftlichen Vertretern der sozialen Reform, sondern auch allen Parteien des Reichstags und den meisten Bundesregierungen, und daher kam es, daß alle Anträge und Gesetzentwürfe, welche seit der Mitte der 80er Jahre von allen Parteien im Reichstag eingebracht, bez. unterstützt und mit großen Majoritäten beschlossen wurden, und welche eine Ausdehnung des Arbeiterschutzes namentlich für Kinder, jugendliche und weibliche Arbeiter und bezüglich der Sonntagsarbeit bezweckten, gelegentlich vom Fürsten Bismarck bekämpft, sonst aber vom Bundesratstisch mit einem beredten Schweigen gewürdigt und vom Bundesrat nicht weiter berücksichtigt wurden. Wenn man erwägt, daß Arbeiterschutzgesetze, welche den Arbeitern und ihren Familien unmittelbar und sofort zu gute kommen und den Arbeitern keine materiellen Opfer auferlegen, die Arbeiter zufriedener machen als Arbeiterversicherungsgesetze, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß, wenn schon früher die heute durch das Gesetz vom 1. Juni 1891 eingeführte A. erlassen wäre, es der Sozialdemokratie nicht in dem Maße gelungen wäre, in der Arbeiterbevölkerung Anhänger zu gewinnen, wie es thatsächlich in den 80er Jahren geschehen ist. Bismarcks Standpunkt in der Frage des Arbeiterschutzes hat für Deutschland insofern auch eine große Tragweite gehabt, als er eine der wesentlichen sachlichen Ursachen der Entlassung des Reichskanzlers gewesen ist, da Kaiser Wilhelm II. in dieser Frage völlig andrer Ansicht war. Der Kaiser gab derselben in seinen Erlassen vom 4. Febr. 1890 einen feierlichen Ausdruck.

Mit diesen Erlassen beginnt das dritte Stadium der Sozialpolitik des Deutschen Reiches. Der Kaiser erklärte den weitern Ausbau der A. als eine notwendige und dringende Aufgabe und die Lösung derselben als seinen festen und entschiedenen Entschluß. Eingeleitet wurde die neue Ära durch eingehende Beratungen des preußischen Staatsrats unter dem Vorsitz des Kaisers über die Änderungen der bisherigen Gesetzgebung und durch die vom Kaiser veranlaßte internationale Arbeiterschutzkonferenz, welche in Berlin 15.-29. März 1890 stattfand (s. Arbeiterschutzkonferenz, Bd. 18). Nach dem Rücktritt des Fürsten Bismarck wurden dem Reichstag von dem neuen Reichskanzler v. Caprivi 6. Mai 1890 zwei große und wichtige sozialpolitische Gesetzentwürfe vorgelegt. Der eine betraf die Organisation von Gewerbegerichten, die zugleich als Einigungsämter wirken können, und wurde noch 1890 (Gesetz vom 29. Juli 1890) erledigt (s. Gewerbegerichte, Bd. 18). Der zweite enthielt die neue Gestaltung der A. und wurde nach sehr eingehenden Kommissionsberatungen und langen Verhandlungen unter zahlreichen Abänderungen vom Reichstag in dritter Lesung 8. Mai 1891 angenommen. Die Bundesregierungen stimmten der vom Reichstag beschlossenen Fassung zu, das Gesetz wurde 1. Juni 1891 vom Kaiser unterzeichnet und publiziert.

Das Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891.

Die neuen Schutzbestimmungen ändern den Titel VII der Gewerbeordnung, welcher die Verhältnisse der gewerblichen Arbeiter regelt, in so vielen Paragraphen ab, daß der Bundesrat es für zweckmäßig fand, durch die Vorlage den bisherigen Titel VII Zu ersetzen. Deshalb enthält die Vorlage und ebenso das neue Gesetz auch noch einige weitere Abänderungen und Ergänzungen der bisherigen Gesetzgebung, die zwar nicht in den Kreis der eigentlichen A. fallen, sich aber auch auf die Regelung der Arbeiterverhältnisse beziehen und auch schon längst als notwendig, bez. wünschenswert anerkannt worden sind. Es handelt sich hier, von einigen minder wichtigen Bestimmungen abgesehen, besonders um Ergänzungen der Bestimmungen über die Arbeitsbücher der Minderjährigen (§ 107-114), die den Zweck verfolgen, durch Stärkung der elterlichen Autorität der zunehmenden Zuchtlosigkeit der Jugend entgegenzuwirken, und um die bisher nicht erfolgte besondere Regelung der Verhältnisse der Betriebsbeamten, Werkmeister und Techniker in gewerblichen Unternehmungen (Abschnitt III a, § 133a-133e). Wir unterlassen es, hier auf diese Bestimmungen des neuen Gesetzes einzugehen und beschränken uns auf die Darstellung der Schutzbestimmungen.

Was diese betrifft, so ist zwar, wie schon erwähnt, durch die Kommission und den Reichstag die Regierungsvorlage in vielen einzelnen Punkten abgeändert worden und zum Teil gegen den Widerspruch der Vertreter der Bundesregierungen, aber im allgemeinen herrschte doch zwischen Bundesrat und Reichstag Übereinstimmung über Art und Umfang der Ausdehnung des Arbeiterschutzes, und die Differenzen betrafen im wesentlichen Spezialpunkte von geringerer Tragweite, deren Entscheidung vorzugsweise eine Frage der Zweckmäßigkeit war. Dagegen zeigte sich eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bundesrat und der Majorität der Kommission wie des Reichstags über eine andre Frage, die nicht den Schutz der Arbeiter, sondern den Schutz der Arbeitgeber betraf, und die den wichtigsten Streitpunkt bei den Verhandlungen bildete. Die Bundesregierungen wollten, indem sie auf der einen Seite den Arbeitern einen viel größern Schutz gewährten, auf der andern Seite die Arbeitgeber mehr als bisher schützen gegen Kontraktbruch und widerrechtliche gemeinsame Arbeitseinstellungen, die im letzten Jahrzehnt sehr zahlreich vorgekommen waren, und sie wollten dies erreichen durch zwei neue Bestimmungen, von denen die eine dem Arbeitgeber wie dem Arbeiter beim Kontraktbruch ein Recht auf eine gesetzlich in ihrem Maximalbetrag begrenzte Buße des Kontraktbrüchigen einräumte, die andre aber die öffentliche Aufforderung zur widerrechtlichen Einstellung der Arbeit, ebenso die zur widerrechtlichen Entlassung von Arbeitern unter Strafe stellte. Diese Bestimmungen stießen auf die lebhafteste Opposition, und es gelang. den Bundesregierungen nicht, für dieselben eine Majorität zu erhalten.

Die Buße.

Die erste Bestimmung enthielt der § 125 der Regierungsvorlage: »Hat ein Geselle oder Gehilfe vor rechtmäßiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Arbeit verlassen, so kann der Arbeitgeber an Stelle der Entschädigung eine an ihn zu erlegende Buße fordern, welche für den Tag des Vertragsbruches und jeden folgenden Tag der vertragsmäßigen oder gesetzlichen Arbeitszeit, höchstens aber für 6 Wochen, bis auf die Höhe des ortsüblichen Tagelohns (§ 8 des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883), sich belaufen darf. Dasselbe