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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Arbeiterschutzgesetzgebung (das deutsche Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891)

schon so vielfach vorhandenen Elemente des Mißtrauens in der Arbeiterwelt gegen die staatliche Ordnung noch ansehnlich verstärken. Die Bestrafung der öffentlichen Aufforderung zum Kontraktbruch aber sei eine Ungerechtigkeit gegen die Arbeiterklasse, widerspreche dem Geist unsrer Strafgesetzgebung und würde nur die Folge haben, daß eine geschickte Agitation im geheimen das leisten würde, was öffentlich verboten sei, dagegen die Verbitterung der Arbeiterkämpfe sich steigern müsse, wenn man »die vielfach von den besten Beweggründen beseelten Führer für eine im einzelnen Fall vielleicht übereifrige Agitation mit Strafen belege, deren Nahmen das Strafmaß für zahlreiche gemeine Vergehen ansehnlich übersteige«. Man hat sich im Reichstag auch nicht zu einer anderweitigen Änderung des § 153 veranlaßt gesehen, und so sind § 152 und 153 in ihrer bisherigen Fassung noch heute in Geltung.

Die neuen Schutzbestimmungen im besondern.

Die neuen Schutzbestimmungen sind folgende:

1) Die neue Regelung der Sonn- und Festtagsarbeit der Arbeiter (§ 105 a.-105 i). Die berechtigte Forderung, die Sonn- und Festtagsarbeit in gewerblichen Unternehmungen nur da zu gestatten, wo sie aus technischen Gründen oder ohne schwere Schädigung berechtigter Interessen nicht vermieden werden kann, diese Ausnahmefälle aber gesetzlich, resp. im Wege der Verwaltung zu bestimmen und für einen Schichtwechsel der Sonntags beschäftigten Arbeiter zu sorgen, ist jetzt erfüllt. Die Sonn- und Festtagsarbeit (Bestimmung der Festtage durch die Landesregierungen) ist im Betrieb von Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Brüchen und Gruben, von Hüttenwerken, Fabriken und Werkstätten (auch hausindustriellen), von Zimmerplätzen und andern Bauhöfen, von Werften und Ziegeleien sowie bei Bauten aller Art verboten (Ruhezeit für jeden Sonn- und Festtag mindestens 24, für zwei aufeinander folgende Sonn- und Festtage 36, für das Weihnachts-, Oster- und Pfingstfest 48 Stunden; die Ruhezeit ist von 12 Uhr nachts zu rechnen und muß bei zwei aufeinander folgenden Sonn- und Festtagen bis 6 Uhr abends des zweiten Tages dauern; in Betrieben mit regelmäßiger Tag- und Nachtschicht kann sie frühstens um 6 Uhr abends des vorhergehenden Werktags, spätestens um 6 Uhr morgens des Sonn- oder Festtags beginnen, wenn für die auf den Beginn der Ruhezeit folgenden 24 Stunden der Betrieb ruht). Im Handelsgewerbe dürfen Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter am ersten Weihnachts-, Oster- und Pfingsttage gar nicht, an andern Sonn- und Festtagen nicht länger als 5 Stunden beschäftigt werden; die Gemeinde oder der Kommunalverband kann jedoch für alle oder einzelne Handelsgewerbe die Beschäftigung auf kürzere Zeit einschränken oder ganz untersagen; für die letzten 4 Wochen vor Weihnachten sowie für einzelne Sonn- und Festtage, an welchen örtliche Verhältnisse einen erweiterten Geschäftsverkehr erforderlich machen, kann die Polizeibehörde die Beschäftigung bis zu 10 Stunden zulassen. Das generelle Verbot erstreckt sich nicht: a) auf Arbeiten, welche in Notfällen oder im öffentlichen Interesse unverzüglich vorgenommen werden müssen; b) auf Arbeiten zur Durchführung einer gesetzlich vorgeschriebenen Inventur für einen Sonntag; c) auf die Bewachung der Betriebsanlagen, auf Arbeiten zur Reinigung und Instandhaltung, durch welche der regelmäßige Fortgang des eignen oder eines fremden Betriebs bedingt ist, sowie auf Arbeiten, von welchen die Wiederaufnahme des vollen werkthätigen Betriebs abhängig ist, sofern nicht diese Arbeiten an Werktagen vorgenommen werden können; d) auf Arbeiten, welche zur Verhütung des Verderbens von Rohstoffen oder des Mißlingens von Arbeitserzeugnissen erforderlich sind, sofern auch diese Arbeiten nicht an Werktagen vorgenommen werden können; e) auf die Beaufsichtigung des Betriebs, soweit er nach a-d an Sonn- und Festtagen stattfindet. (Dauern die Arbeiten zu c und d länger als 3 Stunden, oder hindern sie die Arbeiter am Besuch des Gottesdienstes, so muß jeder Arbeiter entweder an jedem dritten Sonntag volle 36 Stunden oder an jedem zweiten Sonntag mindestens von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends von der Arbeit freigelassen werden; Ausnahmen durch die untere Verwaltungsbehörde unter gewissen Voraussetzungen zulässig.) Der Bundesrat kann aber die Sonn- und Festtagsarbeit gestatten für bestimmte Gewerbe, insbesondere für Betriebe, in denen Arbeiten vorkommen, welche ihrer Natur nach eine Unterbrechung oder einen Aufschub nicht gestatten, sowie für Betriebe, welche ihrer Natur nach auf bestimmte Jahreszeiten beschränkt sind, oder welche in gewissen Zeiten des Jahres zu einer außergewöhnlich verstärkten Thätigkeit genötigt sind (aber für alle Betriebe derselben Art gleichmäßig und unter Berücksichtigung der vorstehenden Bestimmungen über die Freilassung an jedem zweiten, bez. dritten Sonntag). Weitere Ausnahmen von dem Verbot sind zulässig durch die höhern Verwaltungsbehörden für Gewerbe, deren vollständige oder teilweise Ausübung an Sonn- und Festtagen zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist, sowie für Betriebe, welche ausschließlich oder vorwiegend mit durch Wind oder unregelmäßige Wasserkraft bewegten Triebwerken arbeiten müssen, und durch die untern Verwaltungsbehörden für bestimmte Zeit, wenn zur Verhütung eines unverhältnismäßigen Schadens ein nicht vorherzusehendes Bedürfnis der Beschäftigung von Arbeitern an Sonn- und Feiertagen eintritt. Durch kaiserliche Verordnung kann mit Zustimmung des Bundesrats das Verbot der Sonn- und Festtagsarbeit auch auf andre Gewerbe ausgedehnt werden. Der Zeitpunkt, an welchem diese Bestimmungen ganz oder teilweise in Kraft treten, wird durch kaiserliche Verordnung bestimmt.

2) Neu geregelt ist der Schutz der Arbeiter gegen Gefahren für Leben, Gesundheit u. Sittlichkeit bei der Arbeit. Statt der frühern allgemeinen und unzulänglichen Vorschrift (Gewerbe-Ordnung § 107, später § 120, Abs 3) sind jetzt in zweckmäßiger Weise bestimmte gesetzliche Anforderungen an die Betriebsanlagen und -Einrichtungen und Grundsätze aufgestellt, über deren Erfüllung die Behörden zu wachen haben, und die Polizei-, resp. Verwaltungsbehörden können zur Durchführung der Grundsätze für einzelne Anlagen die erforderlichen Maßnahmen anordnen; außerdem sind der Bundesrat und allenfalls die Landesbehörden ermächtigt, weitere Ausführungsverordnungen zu erlassen (§ 120a-120e). Die Gewerbeunternehmer sind gesetzlich verpflichtet, die Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen, Maschinen und Gerätschaften so einzurichten und zu unterhalten und den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit so weit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebs gestattet; insbesondere ist für genügendes Licht, ausreichenden Luftraum und Luftwechsel, Beseitigung des bei dem Betrieb entstehenden Staubes, der dabei entwickelten