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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Litteratur im Jahre 1891 (Allgemeines)

nisation dieser Gebiete erscheint als ein großer Erfolg. Schon jetzt ergeben die aufgestellten Rechnungen, daß dieselbe ohne große Opfer an Kapital durchführbar ist. Selbst bei reicher Dotierung der neuen Gemeinden mit Schul-, Kirchen- und Wohlfahrtseinrichtungen werden voraussichlich^[korrekt: voraussichtlich] 90 - 92 Mill. Mk. in den Betriebsfonds zurückfließen. Schon jetzt ist in einer Anzahl von Kreisen dem polnischen Adel ein großer Teil seines Einflusses entwunden worden, so daß mehrere Landtags-, wahrscheinlich auch zwei Reichstagsmandate den Deutschen zufallen werden. Für den sicher bevorstehenden Sieg des Deutschtums über das Slawentum in diesen Gebieten erscheint das aufgewandte Kapital nicht zu hoch bemessen.

Deutsche Litteratur im Jahre 1891. Daß jetzt auf allen Gebieten des litterarischen Lebens eine mächtige Bewegung vorhanden ist, die zu dem vor wenigen Jahren noch allgemein beklagten Stillstand in wohlthuendem Gegensatz steht, läßt sich nicht leugnen. Mag man von dieser Bewegung denken, wie man will, unter allen Umständen ist sie wertvoller als der Stillstand, denn sie allein ist Leben. Die Bewegung aber zu schildern, die Richtung Zu erfassen, in welche sie die aufgeregten Geister führt, ist schwer für denjenigen, der mitten in ihr steht, und dessen Gesichtsfeld leicht von dem nahen Kleinen verdeckt wird zu ungunsten des ferner stehenden und darum angesehenen, ungekannten Großen. Dem Zeitgenossen ist die eigne Zeit am schwierigsten erfaßbar. Darum können es nur tastende Linien sein, die unsre Übersicht des litterarischen Gesamtlebens im letzten Jahre zu ziehen versuchen wird, immer gewärtig, vom nächsten Tage eines bessern belehrt zu werden. Denn die Wandlung der Schriftsteller und Ideen wetteifert in unsern Tagen zuweilen mit der Schnelligkeit der Maschinen, man muß immerfort auf Überraschungen gefaßt sein.

Zunächst dürfte wohl die Beobachtung unbestritten bleiben, daß in dem abgelaufenen Jahr der Kampf gegen das alleinseligmachende Dogma der naturwissenschaftlichen Methode eine Verschärfung gefunden hat. Hier ist der Brennpunkt der ganzen Geistesbewegung unsrer Zeit. Es handelt sich um den Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus, zwischen Empirismus und Spekulation. Sein Gepräge erhielt das 19. Jahrh. von den Naturwissenschaften und ihrem Materialismus: sie haben das Muster für alle andern wissenschaftlichen Disziplinen gebildet, der Begriff »Wissenschaft« ist von ihnen geholt worden. Run hat man die Mängel dieser Richtung erkannt, und nun strebt man, über sie hinauszukommen. Den Kampf eröffnet hat der anonyme Verfasser von »Rembrandt als Erzieher«, der eine heftige Gegenbewegung hervorgerufen hat, eine Flut von Broschüren für und gegen sein leider auch so wenig lesbares Buch. Was von alledem als bleibender Rest zurückblieb, ist die Erkenntnis, daß es mit dem einseitigen Materialismus in Wissenschaft, Kunst und Leben doch nicht so weiter gehen könne. Der Rembrandt-Deutsche hat den Versuch gemacht, den Deichen seiner Zeit ein Ideal zu geben; wie weit dieser Versuch gelungen ist, läßt sich indes allerdings noch nicht beurteilen; aber jedenfalls hat er überhaupt das eingeschlummerte idealistische Bedürfnis wieder erregt, die Debatte auf Fragen in dieser Richtung gelenkt und die tote Masse in Fluß gebracht. Die vorhandene Erregung in allen Erziehungsfragen kam seinem Buche zu gute; denn die Streitigkeiten über Wert und Zweck des klassischen Sprachunterrichts, über den Unterschied von Gymnasien und Real schulen, über das Ziel der Erziehung überhaupt haben auch endlich die große Menge auf Erwägung idealer Fragen gelenkt und sie aus der Gleichgültigkeit geweckt, in die sie das Vertrauen in die Herrlichkeit des technischen Jahrhunderts gelullt hat. Die Opposition gegen das Dogma der Naturwissenschaften ging indes auch von den engern wissenschaftlichen Kreisen ganz spontan aus. Insbesondere bedeutsam wurde die scharfe Kritik der verschiedenen Methoden des Geschichtsbetriebs, welche der geistvolle Jenenser Historiker Ottokar Lorenz in seinem Werke »Die Geschichtswissenschaft« übte. Es ist im Grunde derselbe Geist hier wie im Rembrandt-Deutschen, der sich gegen das Mechanisieren des Geistes auflehnt, mit Nachdruck auf den tiefen Unterschied der zwei Gebiete: Natur und Geschichte verweist und die Forscher zur Erkenntnis der Notwendigkeit auch der Wahl verschiedener Methoden führt/ Es handelt sich in diesem Streit nicht um eine von feiten der Historiker drohende Geringschätzung der Naturwissenschaften, wie mit Vorliebe von denen angenommen wird, welche bloß deswegen schon Front gegen die Warner machen, weil sie jeden Angriff auf die Hegemonie der Naturwissenschaften als eine Verstärkung der Kirche betrachten. Nichts ist abgeschmackter als diese Vermutung, die oft geradezu zur Verdächtigung wird, wie z. B. in Wien, wo dem geistvollen Rektor der Wiener Universität in dieser Beziehung vielfach unrecht gethan wurde. Adolf Exner hat nämlich für den wogenden Kampf in seiner Aufsehen erregenden Rektoratsantrittsrede »Überpolitische Bildung« eine glückliche Formel gefunden, indem er das geflügelte Wort schuf: »Die einseitige Befangenheit der Geister in den naturwissenschaftlichen Denkformen ist der Zopf des neunzehnten Jahrhunderts«. Daß es sich dabei nicht um Verachtung der Naturwissenschaften handelt, ist selbstverständlich; wohl aber ist es eine berechtigte Notwehr der Historiker und aller derjenigen, die etwas weiter als die Materialisten sehen. Dieser Kampf um den Idealismus findet seinen monumentalen Ausdruck auch in der glänzend geschriebenen und von wahrhaft modern humanem Geist erfüllten Ethik Friedrich Paulsens und hat in der letzten Zeit auch ein besonderes Organ gefunden in den von Hans Schmidkunz in München herausgegebenen Flugschriften: »Gegen den Materialismus«, die mit einer von Moriz Carriere geschriebenen Abhandlung: »Materialismus und Ästhetik« begonnen haben.

Weiter hinaus als zu diesem allgemeinen Vorpostengefecht einer wirklich neuen Zeit sind wir indes noch nicht gelangt. Eine führende Persönlichkeit, die ihr Ideal zum Ideal einer großen Menge von Anhängern gemacht hätte, ist nicht aufgetreten; viele mehr steht die schöne Litteratur als der eigentlich-Ausdruck^[Anmerkung: so eindeutig nach Scan, vermutlich korrekt: eigentliche Ausdruck] des Zeitgeistes noch immer im Banne voll Dichtern, die keine Deutschen sind, Zolas, Ibsens, Tolstois, Bourgets, Dostojewskis etc. Es ist nicht zu leugnen, daß die Anregungen, welche die deutsche Litteratur vom Ausland erhalten hat, hauptsächlich dazu beigetragen haben, den eingetretenen Stillstand zu heben. Der Naturalismus in Deutschland hat zwar keine oder doch nur sehr wenig Blüten getrieben, denen man eine bleibende Dauer zuerkennen kann; so z. B. ist das beste Buch Sudermanns: »Frau Sorge«, nicht wenig von Gottfried Keller beeinflußt und darum gar nicht so naturalistisch wie manche seiner spätern, minderwertigen Arbeiten. Dennoch muß man den deutschen Naturalisten bei aller Kritik ihrer Manieren und ihrer Leistungen zugestehen, daß sie Leben in die Bücherwelt gebracht haben. Es soll ihnen nicht