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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Litteratur im Jahre 1891 (Drama)

aber wenn Mörikes Idyllen jemals eine gute Nachfolge fanden, so geschah es in den Idyllen Schullerns; übrigens kann er mit den Liebesgedichten und Naturbildern seinem Landsmann Gilm füglich gleichgestellt werden. Vintlers lyrische Muse ist ganz anders geartet: eine frische, lustige Dirne, mit der Neigung zum Spott und Hohn, angriffslustig und witzig, doch auch nachdenklich zuzeiten und weich. - Von der Lyrik dichtender Frauen verdienen die Gedichte von Ilse Frapan genannt zu werden, wenn sie auch nicht das halten, was man nach einzelnen ihrer Novellen erwartet hätte. Carmen Sylva hat auch in diesem Jahr 3 Bände lyrischer Gedichte: Heimat«, »Handwerkerlieder«, »Meerlieder«, erscheinen lassen.

Drama.

So überreich die gegenwärtige Produktion von Romanen und Novellen ist, da das Publikum der Leihbibliotheken, womit sie rechnet, einen unersättlichen Magen dafür hat, so muß man es dennoch als den charakteristischen Zug der Litteratur bezeichnen, daß im Mittelpunkt ihres Interesses wesentlich das Theater steht. Dahin streben alle Bemühungen der stärkern Talente, nicht bloß weil das Drama die schwierigste und bedeutendste dichterische Form ist, sondern weil es auch den reichsten Ruhm und den reichsten Ertrag bietet; in unsrer anspruchsvollen Zeit, in der die Dichter sich nicht mehr, wie einst einmal, mit einem Dachstübchen begnügen wollen und auch nicht können (denn der Dichter soll ja Weltmann sein!), spielt die Aussicht auf reiche Tantiemen eine große Rolle. Die Möglichkeit dazu ist ja gegeben, Thatsachen beweisen es, daß einzelne Dichter und Komponisten sich mit einem einzigen durchschlagenden Erfolg ein sorgenfreies Leben gesichert haben, darum wollen es viele so haben, und der Erfolg auf der Bühne ist ja auch der berauschendste. Daher die Erscheinung, daß Dichter, die schlechtweg nur als Erzähler leistungsfähig sind, wie z. B. F. Spielhagen, doch unentwegt die Bühne zu erobern suchen und von einem ehrenvollen Begräbnis zum andern wandern. Dem Chronisten aber liegt es ob, klar zu sehen, und Spreu von Weizen, Berufene von Unberufenen zu scheiden.

Wir wollen auch hier mit den Naturalisten anfangen, die im Drama den Spuren Ibsens und Strindbergs folgen und durch Darstellung des Peinlichen eine Wiedergeburt der Kunst erwarten. So Gerhard Hauptmann, der in »Vor Sonnenaufgang« die Erblichkeitsfrage behandelt, die Frage, ob ein Mann ein Mädchen aus einer Trinkerfamilie heiraten kann; dieser Mann des Stückes ist ein unklarer, unreifer Mensch, und damit fällt das Stück. Ganz und gar unter dem Eindruck von Ibsens kleinstädtischen Dramen sind Hauptmanns »Einsame Menschen« geschrieben worden. Sein unreifer Held wäre viel mehr in einer Komödie als in einem ernsten Stück am Platz, und das ist der Fehler des hypochondrisch ernsten Werkes, das in den Gestalten der Eltern Vockerat und der jungen Frau Käthe Zeugnis für das ungewöhnliche Talent Hauptmanns ablegt. Ludwig Fuldas schmiegsames Talent steht auch in der naturalistischen Strömung, er ist aber doch noch vorsichtig genug, mit dem Naturalismus nur zu kokettieren, ihn äußerlich zu verwenden, innerlich aber zur alten guten Rührkomödie zu halten, so im »Verlornen Paradies. In der »Sklavin« hat er die Stellung des Weiber zum Manne im Geiste der Norweger behandelt. Viel wuchtiger ist Ernst u. Wildenbruchs Dramatik, dessen »Neuer Herr« und »Haubenlerche« auch in dieser Strömung liegen, aber doch nicht ganz in ihr sich verlieren. Wildenbruch steht jetzt ohne Zweifel in einiger Verwirrung; er macht dem Modegeschmack Zugeständnisse, ohne die volle Kraft, seiner Herr zu werden. Die »Haubenlerche« mit ihrer urwüchsigen Munterkeit scheint aus dem Gegensatze zur Hypochondrie Ibsens entstanden zu sein, aber dieser Gedanke ist nicht durchgeführt, sondern wird mit einem modisch-naturalistischen Motiv verquickt. Sudermann hat mit seinem zweiten Werk: »Sodoms, Ende«, keinen so großen Erfolg wie mit der »Ehre« errungen; er hat hier in seltsamer Weise naturalistische Neigungen mit der Form der alten Sittenkomödie vereinigt, doch aber wieder seinen wahren, dramatischen Beruf bewiesen. Ähnlich schafft auch! der begabte Richard Voß, der es nur leider zu keiner Harmonie in sich selbst gebracht hat und, anstatt rein tragisch zu wirken, den Zuschauer peinigt und quält, so in »Alexandra« und »Schuldig!«. Seine »Pastorin« konnte sich nicht erhalten. Über Stücke wie Hermann Bahrs »Mutter«, Arno Holz' und Johannes Schlafs »Familie Selicke« wird sich bald der Staub des Antiquars lagern.

Eine andre Gruppe bilden die Dichter der ältern Generation, die mit feinster Bildung und wirklicher Begabung dennoch nicht das Theater erobern können. Hans Hopfens »»Hexenfang«, ein geistvoll phantastisches Lustspiel, interessierte nur kurze Zeit. Paul! Heyse schreibt jetzt fast nur Dramen; diese Bemühungen um die Bühne, so nachhaltig, so ehrenwert und doch so erfolglos, muten fast tragisch an. So hatte er mit seinem geistreichen Trauerspiel »Die schlimmen Brüder ausgesprochenen Mißerfolg; sein geistvolles Schauspiel: »Wahrheit?« brachte es nur zu einem Achtungserfolg in München. Beim Lesen entzücken die schönen Verse und Gedanken seiner Dramen. Nicht viel besser ergeht es dem viel schüchtern Martin Greif, dessen Dramen so vielen urteilsfähigen Kritikern (Otto Lyon, G. Klee u. a.) gefallen und sich doch nicht die Bühne sichern können. Seine zwei neuen Stücke: »Ludwig der Bayer, ein vaterländisches Schauspiel, und die Liebestragödie »Francesca da Rimini«, haben manchen dichterischen Reiz; in die Francesca sind lyrische Perlen verflochten. Auch Graf Schack hat einen Band Lustspiele gebracht. Von den Wiener Poeten ist allerlei zu verzeichnen. Ludwig Döczys »Maria Szechy« betrat allerdings noch nicht die Bühne, hat aber schon in der Buchform Freunde gewonnen. Dem Dichter Karl v. Wartenegg wurde für seinen »Ring des Offterdingen«, ein Drama in: Stil der ältern Österreicher Prechtler und Mosenthal, der erste Preis in der Preiskonkurrenz des deutschen Volkstheaters zuerkannt; bei der Aufführung fiel es mit seiner billigen Rhetorik und einfältigen Handlung trotz des geschickten ersten Aktes durch. Auch P. K. Rosegger ist unter die Dramatiker gegangen mit einem Volksstück: »Am Tage des Gerichts«, das gar keine gering zu schätzende Bühnenwirkung hat; jedenfalls ist der zweite Akt ein humoristisches Kabinettsstück. Zu erwähnen wären noch: Ganghofer und Brociner: »Die Hochzeit von Valeni«, eine richtige Boulevardtragödie, Triesch und Schnitzer: »Hand in Hand«, ein mißglückter Versuch in der Art von Fuldas »»Verlornem Paradies«, Müller-Guttenbrunns »Irma«, eine viel zu spät nachhinkende Nachahmung der französischen Kokottenkomödie, die gleich verschwand, Ganghofers Charakterlustspiel: Die Falle« etc. Eins der interessanten Ereignisse im Gebiete der dramatischen Kunst von 1891 war die Aufführung der Tragödie »Meister Manole« von Carmen Sylva, ohne dauernden Erfolg