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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Litteratur im Jahre 1891 (Memoiren etc.)

Ferner«. Auch die neuen Novellen »Enge Welt« von Ilse Frapan darf man zu den wertvollern Erscheinungen rechnen; sie bietet in der That jene vielgesuchte Vereinigung von Realismus und Poesie; die Frapan hat die Kraft, bis in jene Tiefe zu steigen, wo das Bewußtsein sich zum Instinkt verdunkelt, und doch zugleich die klare sittliche Weltanschauung zu bewahren; freilich schreibt sie ungleich, der neuere Band: »Bittersüß«, steht nicht mehr auf der Höhe der frühern, weder im Humor noch im Ernst. Auch die kleinen Erzählungen: »Auch ein Romane, von echt schwäbischer Frische, die Hermine Villinger brachte, dürfen hierher gerechnet werden.

Von neu aufgetretenen Dichtern verdienen die »Wiedergebornen« und der Roman »Das Blut von J. J. David alle Aufmerksamkeit; ein freundliches Talent mit gesunder Natürlichkeit ist Joachim v. Dürow: »Strahlendorf und Reetzow-. In dem schweizerischen Bauerndichter Joseph Joachim trat eine neue Kraft voller Mark und Saft hervor. Seine zweibändige Volksgeschichte »Die Brüder« gibt ein umfassendes, an Gedanken und Gestalten gleich reiches Bild des gesamten schweizerischen Volkslebens der Gegenwart mit edler freimütiger Tendenz: ein rechter Abkömmling von Jeremias Gotthelf. Ein andrer Schweizer, Wilhelm Sommer, kommt erst nach seinem Tode mit den »Elsässischen Erzählungen« Zur weitern Anerkennung; Sommer ist ein begabter und liebenswürdiger Erzähler, dessen allzu früher Tod (1888) lebhaft zu bedauern ist. Auch aus dem Lager der Naturalisten sind viele Romane und Novellen gekommen, die freilich nach ihrem eignen Ausdruck zur »Übergangslitteratur« gehören: Versuche, Studien, Experimente auf Grundlage der naturalistischen Ästhetik, die so irreführenderweise vom Dichter die »Objektivität« des Naturforschers fordert. Es ist keine Freude, in diesen tobenden Hollen-Breughel von Stürmern und Drängern hineinzuschauen, doch seien die hervorragendsten Gestalten angemerkt, die sämtlich kein abschließendes Urteil gestatten. Der Theoretiker der naturalistischen Ästhetik, Wilhelm Bölsche, ist nun auch als Romanschreiber aufgetreten: »Die Mittagsgöttin«, in der mit allen naturalistischen Zuthaten der Kampf Zweier Weltanschauungen, der sensualistischen und der spiritualistischen, dargestellt wird. Große Exzesse gestattete sich Konrad Alberti im Roman: »Das Recht auf Liebe«. Dem ersten Kokottenroman: »Im Liebesrausch«, hat Heinz Tovote einen zweiten: »Frühlingssturm«, nachgeschickt: ohne Zweifel ein Fortschritt in künstlerischer Beziehung, in der Technik und Charakteristik, überall vortreffliche Schilderungen der Sinnlichkeit, die in der Novelle »Der Erbe« freilich ans Empörende grenzte. Ein verwandter Erotiker ist Felix Holländer in den Romanen »Jesus und Judas« und »Magdalena Dornis«. Johannes Schlaf: »In Dingsda«, pflegt im modischen Stil nicht ohne Geschick das Stimmungsbild.

Memoiren. Biographien. Litterarhistorie.

Charakteristisch für die Gegenwart ist das große Interesse, das sie an der Geschichte nicht in der künstlerischen Form eines Ranke, sondern in den elementarern Formen der unverarbeiteten Dokumente und Quellen der Geschichtschreibung nimmt. Die Zeit der Kulturschildereien scheint vorüber zu sein, die Zeit der Memoiren ist gekommen. Die Lebenserinnerungen, die ein alter, vielerfahrener Mann nach einem erfahrungsreichen Leben niederschreibt, sind allerdings Geschichte in der wärmsten persönlichen! Form, auf die Biographie des einzelnen und der Generation hat ja auch Meister Ranke feine großen Werke gegründet. Doch ist das Memoirenschreiben bei den Deutschen noch nicht sehr ausgebildet, und vorläufig treten Sammlungen von Briefen an ihre Stelle. Literarhistorisch stand das abgelaufene Jahr im Zeichen Franz Grillparzers und Theodor Körners, deren hundertste Geburtstage mit allem Aufwand litterarischer Ehren gefeiert wurden. Die Grillparzer-Litteratur fand durch das »Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft« (hrsg. von Karl Glossy in Wien) eine Bereicherung; die zahlreichen Briefe des Dichters aus allen seinen Lebensstufen haben neues Licht über seinen allzu empfindsamen Charakter gestreut; nicht am wenigsten auch der ausgezeichnete Kommentar Glossys. Dazu sind noch zu nennen: die Jubiläums-Ausgabe der Gedichte Grillparzers von August Sauer, die Grillparzer-Studien von Adolf Lichten Held, die Biographie des Dichters von Richard Mahrenholtz, die freilich mangelhaft in Thatsachen und Beurteilung ist, »Grillparzers Kunstphilosophie von Emil Reich. Die Körner-Litteratur fand in dem stattlichen Prachtwerk von Rudolf Brockhaus (zum 23. September 1891, Briefe, Dichtungen etc. von und an Körner«) Bereicherung; die liebenswürdigste Gabe spendete aber Alfred v. Arneth, der Sohn von Körners Braut Antonie Adamberger, indem er in seine (nicht im Buchhandel erschienene) »Lebenserinnerungen I« die Aufzeichnungen seiner Mutter aufnahm, die zum Schönsten gehören, was eine deutsche Frau geschrieben haben mag. Auch die Litteratur über Nikolaus Lenau wurde durch L. A. Frankls Ausgabe seiner an Sophie Löwenthal gerichteten Liebesbriefe stattlich bereichert, und in größerer Stille schritt die Sophien-Ausgabe von Goethes Werken mit dem Abdruck seiner Tagebücher und der »Aristeia« der Mutter vor. Auf Grundlage des reichen Materials, das in den letzten Jahren aus dem Goethe-Archiv in die Welt trat, besonders der zahlreichen Briefe von Goethes Mutter, schrieb Karl Heinemann ihre Biographie in einer besonders dem Frauenpublikum anmutenden Form. Neue Beiträge zur Goethe-Litteratur lieferten Robert Keils »Goethe-Strauß«, J. Herzfelder, »Goethe in der Schweiz«, Kuno Fischers »Goetheschriften«. In der Schiller-Litteratur macht Jakob Minors monumentale Biographie Fortschritte, ein umfängliches Werk, das sich die Vereinigung des gesamten Wissens von Schiller und seiner Zeit zum Ziel setzt. In entgegengesetzter Methode schreibt Kuno Fisch er über Schiller: analytisch, von innen heraus den Genius erklärend. Das wichtigste Ereignis auf dem Gebiete der Litterarhistorie war aber der Abschluß des im größten Stil angelegten Werkes: Lessing von Erich Schmidt. Hier ist auf Grundlage einer erstaunlichen Belesenheit eine Darstellung des Lebens und Entwickelungsganges von Lessing im Geiste der neuen Kunstgeschichte gegeben worden; Schmidt unterscheidet sich von seinem Vorgänger Danzel wie der Weltmann vom Stubenphilosophen: er ist eleganter, konkreter, künstlerischer als dieser, der ihm als Philosoph überlegen sein mag. Schmidt erzählt fesselnd, Danzel kritisiert mehr. Zur Geschichte der neuern Litteratur verdienen Erwähnung: Julius Rodenbergs Buch über Franz Dingelstedt, die formvollendete, auf neuen Quellen beruhende Lebensgeschichte Otto Ludwigs, die Adolf Stern im ersten Band seiner Ausgabe des Dichters bringt, und die Beiträge zur Kenntnis und Kritik Johann Nestroys, die M. Necker am Schluß der Nestroy-Ausgabe von Ganghofer und Chiavacci veröffentlicht hat. Über