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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutschland

nahm. Die Reichsregierung legte einige kleinere Gesetzentwürfe vor, so über Bestrafung des Sklavenhandels, ferner über einen Zusatz zum Artikel 31 der Reichsverfassung, welcher die Immunität der Reichstagsabgeordneten betrifft. Nach diesem Artikel kann kein Mitglied des Reichstags ohne Genehmigung desselben während der Sitzungsperiode zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird. Nun war der Reichstag sowohl 1890 als 1891 nicht geschlossen, sondern nur vertagt worden, so daß nach der Auslegung der Mehrheit des Reichstags selbst und eines Teiles der Gerichte die Immunität seit dem März 1890 ununterbrochen fortgedauert hatte. Dies hatte aber seine Bedenken und konnte mit dem Artikel 31 der Reichsverfassung nicht beabsichtigt gewesen sein; denn dann würden besonders Preßvergehen verjähren, ohne daß die Justizbehörden es verhindern könnten. Einige Gerichte hatten deswegen auch die Immunität nicht für so lange Vertagungsperioden anerkennen wollen und (so in Sachsen) Reichstagsabgeordnete während derselben in Untersuchung gezogen und verurteilt. Um dieser Rechtsunsicherheit und den daraus entspringenden Übelständen abzuhelfen, sollten nach dem von der Regierung beantragten Zusätze zum Artikel 31 die Bestimmungen desselben keine Anwendung finden, wenn die Zeit der Vertagung des Reichstags die Frist von 30 Tagen übersteige. Im Reichstag zeigte sich wenig Neigung zur Änderung der Reichsverfassung aus diesem Anlaß, und man war, da die Übelstände nicht zu leugnen waren, eher der Meinung, daß man zu dem frühern Gebrauch, jedes Jahr die Sitzungsperiode zu schließen, zurückkehren müsse. Beide Gesetzentwürfe wurden zur Vorberatung an Kommissionen verwiesen.

Die Beratung des Krankenkassengesetzes wurde 27. Nov. durch die Vorlegung und erste Lesung des Reichshaushaltsetats für 1892/93 unterbrochen. Derselbe schloß in Einnahme und Ausgabe mit 1,222,416,597 Mk. ab. Von den Ausgaben entfielen 991,683,030 Mk. auf die fortdauernden, 71,774,745 Mk. auf die einmaligen Ausgaben des ordentlichen Etats und 158,958,822 Mk. auf die einmaligen Ausgaben des außerordentlichen Etats. Wie oben erwähnt, hat der Reichstag die Gesamtausgaben auf 1,207,583,565 Mk. festgesetzt, also um 14,8 Mill. Mk. vermindert, und zwar die fortdauernden Ausgaben um 1,008,166 Mk. und die einmaligen Ausgaben des außerordentlichen Etats um 14,18 Mill. Mk. (durch Abstriche beim Reichsheer und der Marine), während die einmaligen ordentlichen, Ausgaben um 355,361 Mk. höher angesetzt wurden. Über die Ergebnisse des Rechnungsjahrs 1890/91 vermochte der Staatssekretär des Reichsschatzamtes v. Maltzahn günstige Mitteilungen zu machen; die Einzelstaaten hatten 33 Mill. Mk. mehr erhalten, als veranschlagt worden war. Weniger vorteilhaft gestalteten sich die Verhältnisse für 1891/92; auch kam für 1892/93 ein Nachtragsetat hinzu. Die finanzielle Lage des Reiches hatte sich also etwas verschlechtert. Auch sonst machten sich Unzufriedenheit mit den innern Verhältnissen und Mißtrauen gegen die auswärtige Politik der Reichsregierung bemerkbar. Landwirtschaft und Industrie sahen den Handelsverträgen (s. unten) mit wenig Vertrauen entgegen und fürchteten, daß der Reichskanzler wie in andern Dingen so auch in der Zollpolitik den frühern Oppositionsparteien zu viel nachgebe. Das Verhalten der preußischen Regierung gegen die Polen erweckte die Besorgnis, daß sie das

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wieder zerstören werde, was eben erst mit Mühe und Kosten erreicht worden war, und daß dies neue Schwanken für die Zukunft jeden Versuch, das Polentum zurückzudrängen, aussichtslos mache. Während der Reichskanzler und die Minister im Gegensatze zu Bismarcks kräftigem Eigenwillen sich bemühten, streng objektiv zu urteilen und zu handeln und die Unterstützung ihrer Maßregeln und Pläne anzunehmen, von wo sie auch kam, gab der Kaiser seinen subjektiven Anschauungen bei verschiedenen Gelegenheiten einen oft schroffen Ausdruck. Die Mittelparteien fühlten sich durch die matte Haltung der Regierung entmutigt, durch die absolutistischen Anklänge der kaiserlichen Reden verletzt, wogegen die Konservativen durch verschiedene Vorfälle verstimmt, Freisinnige und Ultramontane noch keineswegs befriedigt waren. Was die auswärtige Lage Deutschlands betraf, so hatte man das Gefühl, daß trotz der Erneuerung des Dreibundes D. durch das allzu weit gehende Entgegenkommen gegen Rußland und die darauf folgende Annäherung an England in eine schiefe Position gekommen sei. Caprivi hielt es daher für zweckmäßig, bei der ersten Lesung des Etats 27. Nov. zur Beschwichtigung der, wie er meinte, durch einige Zeitungsartikel verursachten Beunruhigung eine hochpolitische Rede zu halten, in welcher er zunächst auf die auswärtige Politik zu sprechen kam Er betonte namentlich, daß sich in den Beziehungen zu Rußland weder infolge des Besuchs des Kaisers Wilhelm in Narwa 1890, noch seit dem Empfang der französischen Flotte in Kronstadt etwas geändert habe; im Gegenteil sei das seitdem gesteigerte Selbstgefühl Frankreichs eine weitere Friedensbürgschaft. Zugleich sprach er es aber als seine innerste Überzeugung aus, daß es keine Nation in Europa gebe, die in Bezug auf die Qualität ihres Heeres so viele Chancen für den nächsten Krieg habe wie die deutsche. Er fand daher den beunruhigenden Pessimismus, der sich mitunter bemerklich mache, ganz unbegründet und meinte, er wisse nicht, warum eine deutsche Politik, die sich auf eine so gute Armee und auf eine Nation, die mit ihren sämtlichen Männern schließlich, wenn es sein müsse, hinter der Armee stehe, nicht im stände sein sollte, die Würde und das Ansehen Deutschlands unter allen Umständen zu schützen. Obwohl solche selbstbewußte Worte aus dem Munde Bismarcks noch größern Eindruck gemacht und festeres Vertrauen erzeugt hätten, so konnten sie doch über die auswärtige Lage beruhigen. Matt und künstlich war jedoch die Art, wie Caprivi die Nachgiebigkeit gegen die Polen rechtfertigte, die er mit der Aufhebung des Paßzwanges in Elsaß-Lothringen in eine Linie stellte, und der im Januar 1892 im preußischen Landtag eingebrachte Volksschulgesetzentwurf mußte die Besorgnis vor verhängnisvoller Nachgiebigkeit der preußischen Regierung gegen Ultramontane und Polen in ganz D. bestärken.

Der Etat wurde, wie üblich, 30. Nov. teils für die Beratung im Plenum bestimmt, teils an die Budgetkommission verwiesen. Nachdem darauf der Reichstag die zweite Lesung der Krankenkassennovelle beendet hatte, wurden ihm 7. Dez. die neuen Handelsverträge mit Österreich-Ungarn und Italien, denen sich die mit Belgien und der Schweiz anschlossen, vorgelegt. Dieselben waren seit mehr als einem Jahre unter strengster Geheimhaltung verhandelt worden und sollten 1. Febr. 1892, an welchem Tage die bisherige?! Verträge abliefen, in Kraft treten. Dieselben waren auf zwölf Jahre abgeschlossen und banden für diesen Zeitraum die verein-^[folgende Seite]