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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Entwickelungsgeschichte (Häckels "Rekapitulation" und "Fälschungslehre")

Veränderung (Cenogenesis oder Fälschungsgeschichte) des Keimlebens richteten. Aber in einer glänzenden Rede, mit welcher Marshall die biologische Sektion der britischen Naturforscherversammlung 1890 eröffnete, hat derselbe gezeigt, daß dieser Theorie an Fruchtbarkeit für die Wissenschaft kaum eine andre an die Seite gestellt werden kann, und daß die Schwierigkeiten derselben sehr wohl erklärt und begriffen werden können. Daß die Bildungen der lebenden Wesen nicht ohne ihre E. verstanden werden können, zeigen besonders auffallend die abweichenden Formen, wie Seitenschwimmer unter den Fischen, deren Auge wir aus der normalen Lage nach der Oberseite wandern sehen, oder die Napfschnecken (Patella-Arten), deren unter den Genossen ganz fremdartige Schale sich als spätere Errungenschaft dadurch verrät, daß der Embryo ein spiraliges Gehäuse hat wie alle andern Schnecken. Die abweichende Bildung innerer Organe wird oft nur durch die E. klar verständlich, so z. B. die seitliche Lage der Sehlappen beim Vogelgehirn, denn vor dem Ausschlüpfen aus dem Ei liegen sie, wie bei allen andern Wirbeltieren, an der dorsalen Fläche. Dies gilt nicht nur für die höhern Formen, sondern ebenso für die niedern, und gerade bei einer jetzt lebenden Foraminifere (Orbitolites tenuissima) konnte Carpenter nachweisen, daß sie in ihrem Wachstum die Stadien älterer und einfacher gebauter Foraminiferen in allen Einzelheiten genau rekapituliert, also denselben Vorgang, den Würtenberger an den fossilen Ammonitengehäusen nachwies, darbietet.

Diese Verfolgung wird besonders wichtig für das Verständnis der rudimentären Organe, die, wie schon Darwin bemerkte, am Embryo meist von relativ oder sogar absolut größerm Umfang als beim erwachsenen Wesen sind, da der Embryo dasjenige Stadium des Stammbaums zurückruft, in welchem sie noch funktionell thätig waren. Durch ihre vollendete Rückbildung kann das erwachsene Tier manchmal kleiner werden, als seine Larve war, z. B. beim sogen. Fisch- oder Trugfrosch (Pseudis paradoxa) von Surinam, der zur Sage, ein Fisch verwandle sich in einen kleinen Frosch, Veranlassung gab. Zugleich wird es erst durch genauere Verfolgung der E. verständlich, weshalb solche den Ahnen eines Tieres schon vor vielen Jahrtausenden verloren gegangene Organe (z. B. die Kiemenspalten bei Säugetieren) immer wieder erscheinen, weil sich nämlich andre, noch jetzt im Gebrauch befindliche Organe aus ihrem Material oder in inniger Beziehung zu demselben bilden. Dadurch liegt auch, wie Kleinenberg in seiner Arbeit über Lopadorhynchus gezeigt hat, die wahrscheinliche Ursache der ganzen Erscheinung. Man hatte schon gegen Darwin die Einwendung gemacht, neue Organe könnten nicht durch die Zuchtwahl hervorgebracht werden, da ihre Anfänge nutzlos wären. Nun entstehen aber neue Organe fast immer durch die Umbildung und den Funktionswechsel andrer schon vorhandener, z. B. die Lunge der Luftwirbeltiere aus der Schwimmblase der Fische, die Füße, Fühler und Kiefer der Artikulaten aus Seitenanhängen, die früher eine andre Thätigkeit hatten. Damit nun in der Entwickelung des Individuums die neuen Organe gebildet werden können, müssen aber die frühern, aus denen sie entstanden sind, wenigstens in den Anfängen angelegt werden, damit der fortwirkende Reiz, die entsprechende Gliedkette nicht fehle, da sich jede Vollendung durch nicht zu überspringende Stufen vollzieht. Wieviel hier noch zu entdecken sein wird, läßt sich leicht aus der Thatsache erkennen, daß man bei sehr vielen Tieren noch nicht einmal den Anfang gemacht hat, die E. zu studieren, um dadurch Anhaltepunkte für die Stammesgeschichte zu erhalten. So z. B. fehlt uns, trotz der großen Fortschritte der Neuzeit, ein klarer Einblick in die Stammesgeschichte der Säugetiere, so viele fossile Überreste wir auch von ihnen kennen. Aber das ist nicht zu verwundern, da wir nicht einmal von einem einzigen unsrer Haustiere die vollständige, unschwer festzustellende E. kennen. Diejenige des Pferdes z. B. hat vollständig aus den fossilen Überresten rekonstruiert werden können, und die neuern Arbeiten am lebenden Tier, z. B. die Untersuchungen Klevers am Pferdegebiß, haben dieselbe wertvoll ergänzt, aber dieses günstige Ergebnis war nur dadurch möglich, daß die Pferde in allen ihren Vorstufen große Herden in den gemäßigten Zonen gebildet haben, so daß verhältnismäßig zahlreiche Reste von ihnen gefunden wurden, wie dies bei andern seltenen Tieren nicht der Fall ist. Hier wird die Untersuchung am lebenden Tier also noch viel zu ergänzen haben, weil sie ja einerseits gewissere Ergebnisse als die Paläontologie gibt, wenn ihre Deutung nur nicht oft allzu schwierig wäre. Denn nicht immer liegt der Fall so einfach wie bei den Vögeln, unter denen der Archaeopteryx in allen wesentlichen Punkten den Zustand der Skelettbildung eines noch nicht ausgebrüteten Vogels unsrer Zeit zeigt. Die Übereinstimmung der heutigen embryonalen Formen mit ausgewachsenen fossilen hatte schon der ältere Agassiz mit seinen Mitarbeitern erkannt, denn er verkündete die Erkenntnis, »daß die Entwickelungsphasen aller lebenden Tiere der Reihenfolge ihrer ausgestorbenen Vertreter in den vergangenen geologischen Perioden entsprechen«, aber es ist leider nicht erlaubt, ihn zum Entdecker der darin gegebenen wissenschaftlichen Erkenntnis zu erheben, denn gerade er sowie sein Mitarbeiter Karl Vogt haben nie aufgehört, diesen merkwürdigen Parallelismus verkehrt zu deuten.

Die größte Schwierigkeit für die Benutzung des abgekürzten Berichtes der Stammesgeschichte, welche die persönliche E. bietet, wird durch den Umstand hervorgebracht, daß sie nicht immer eine unveränderte Wiedererscheinung (Palingenese) genannt werden kann, weil vielfach nachträgliche Veränderungen eingetreten sind, die den regelrechten Entwickelungsgang fälschten. Diese von Häckel zuerst klar dargelegte Fälschungslehre hat die unglaublichsten Angriffe erfahren, weil die Natur eine Fälscherin genannt wurde, oder vielmehr, weil die Angreifer nicht einsehen konnten oder wollten, worauf sich der Ausdruck Fälschungsgeschichte (Cenogenesis) bezog, nämlich auf die nachträgliche Abänderung des ursprünglichen, treuen Entwickelungsganges, der oft bei ganz nahestehenden Formen erhalten ist. In vielen Fällen können wir die Ursachen dieser nachträglichen Veränderungen sehr wohl erkennen, z. B. bei dem westindischen Laubfrosch (Hylodes martinicensis), der das Kaulquappenstadinm überspringen muß, weil es auf seinen vulkanischen Heimatsinseln nicht immer Wassertümpel gibt, in denen er seine Kaulquappenzeit durchmachen könnte. Wäre nun bloß diese Froschart übriggeblieben, so würden wir nicht wissen, daß die Frösche durch ein molchartiges Stadium hindurchgehen müssen, in denen sie mit Kiemenspalten versehen sind und mit Kiemen atmen, wie es fast alle andern Frösche thun. Wir haben also alle Ursache, diese unter Umständen für uns im höchsten Grade irreführende Verdunkelung als eine Fälschung der getreuen Überlieferung, wie