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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Flutsagen (Entstehung)

Absicht hatten, Bestätigungen sowohl von der Wahrheit des biblischen Berichtes zu finden, als zugleich den Beweis von der Einheit des Menschengeschlechts und des Gemeinbesitzes ihrer Ursagen zu liefern, macht es in vielen Fällen schwierig, zu sagen, wieweit die einzelnen Berichte ursprünglich sind, denn durch Fragen, die auf bestimmte Punkte gerichtet wurden, kann viel hineingetragen worden sein. Gleichwohl zeigen sich so fundamentale Unterschiede, daß schon Grimm die Unabhängigkeit vieler altweltlicher Berichte betonte, und es oft lehrreich, daran zu erinnern, daß von drei unmittelbar mit Assyrern und Juden in Berührung gewesenen Völkern eins, die Perser, eine ganz verschiedene, zwei aber (Araber und Ägypter) gar keine F. besitzen. Die indischen, persischen, germanischen, slawischen und griechischen F. sind in ihren ursprünglichen Formen von den semitischen ganz verschieden; es handelt sich bei ihnen gar nicht um gegen die Menschheit gerichtete Strafgerichte, die große Flut der »Edda«, die aus dem Körper des Urriesen Ymir hervorbricht, ist vormenschlich und vernichtet nur das Riesengeschlecht, deren einer in einem Boote entkommt, die ältere griechische Sage von Ogyges ist ähnlich und auch die von der Deukalionischen Flut erst später von der semitischen Sage beeinflußt, dagegen der litauischen und manchen amerikanischen Formen ähnlich. Die indische Flutsage, deren Unabhängigkeit von der semitischen Max Müller betont, besitzt in der Rettung der Menschheit durch einen fischgestalteten Gott (Wischnu) eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit keltischen und slawischen Sagen, die einen Wintergott auftreten lassen, der die Erde aus der von einem Sommergott erzeugten Flut rettet.

Vergleicht man die Bestandteile der F., so kehrt die Flut als göttliches Strafgericht noch bei den Litauern, Kol, Mincopie, Dajak, Fidschi-, Pelau- und Gesellschaftsinsulanern, bei den Algonkin in Nord- und den Arowaken in Südamerika wieder. Die Vorausverkündigung der Flut durch Tiere findet sich in Indien (durch einen Fisch), bei den Cherokeeindianern (durch einen Hund), bei den Peruanern (durch Lamas). Ein errettender Berg, den die Überlebenden erstiegen haben, oder an welchem das Rettungsboot strandet, kehrt bei Assyrern, Juden, Hellenen, Indern, auf vielen Südseeinseln, in Nord-,Mittel- und Südamerika wieder; er bildet den verbreitetsten Zug der F. Bei den Odschibwä ersteigt Menaboschu (oder Manabozho der andern Algonkinstämme) noch eine 100 Ellen hohe Tanne des Rettungsberges, weil das Wasser bis über den Gipfel desselben steigt Die Mandanen erbauten auf den Rat des ersten Menschen einen hölzernen Turm am Heart River, in welchen sie sich retteten, und ihre Nachkommen, die Numangkake, feiern noch heute ein Flutfest, das Catlin und der Prinz von Wied geschildert haben, wobei sie in der Mitte ihres Dorfes einen 3 m hohen Holzcylinder, als Bild jenes hölzernen Forts, errichten und das »große Kanoe« nennen. Die Mexikaner bei Cholula bezeichneten die dort befindliche unvollendete Pyramide als ein Denkmal der Sintflutzeit. Von den Fidschiinsulanern erzählte Windowi, daß sie früher stets zwei große Kanoes für den Wiederholungsfall bereit gehalten hätten.

Die Aussendung mehrerer Vögel von seiten der Geretteten, um zu erkunden, ob sich das Wasser verlaufe, ist ein häufig wiederkehrender, manchmal für Überlieferung sprechender Zug; man muß aber bedenken, daß die Aussendung von Vögeln, besonders von Kundschaftsraben, einer verbreiteten Gewohnheit

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primitiver seefahrender Volker entspricht. In der Argonautensage werden Tauben ausgesendet, um zu sehen, ob man durch die Symplejaden kommett könne. Floke Vilgedarson, der 868 Island entdeckte, führte nach dem Landnambuk drei Raben mit sich, um durch ihre Flugrichtung die Küste zu finden, und Plinius berichtet denselben Gebrauch schon von den Seefahrern im Indischen Meere. Auch dieser Zug braucht daher nicht überall entlehnt zu sein. In der erwähnten Odschibwäsage sendet der auf der Tanne sitzende Menaboschu eine Bisamratte herab, um zu sehen, ob das Wasser noch sehr tief sei, und um ihm etwas Erde emporzubringen, und obwohl das Tier nur tot emportaucht, hält es etwas Erde in den Krallen, die Menaboschu als Samen für neue, wachsende Inseln ausstreut, ein Zug, der ähnlich in mehreren nordamerikanischen F. wiederkehrt und gewiß echt ist.

Die Neubevölkerung der Erde durch Steine, die Deukalion und Pyrrhä über ihr Haupt warfen, kehrt wieder bei den Makusi in Guayana und bei den Maipuri am Orinoko, nur daß im letztern Falle die Früchte der Mauritiapalme statt der Steine gebraucht werden. In der litauischen Sage, wo ebenfalls ein altes Ehepaar die allein Überlebenden bildete, ward ihnen aufgegeben, über die Steine der Erde zu springen. »Neunmal sprangen sie, und neun Paare entsprangen, der neun litauischen Stämme Ahnen.« In andern Sagen werden überlebende Tiere in Menschen verwandelt, und bei den Nappo-Indianern Kaliforniens heißt es, der dort mehrfach mit den F. verknüpfte Präriefuchs oder Coyote habe nach verlaufener Flut Schwanzfedern von Eulen, Adlern, Habichten und andern Vögeln gesammelt und überall da, wo früher ein Wigwam gewesen, eine solche Feder eingepflanzt und Mist um dieselben gescharrt. Nach einiger Zeit keimten die Federn, schlugen Wurzeln, bekamen Zweige und blühten reichlich, bis sie endlich zu Männern und Weibern wurden. In andern Sagen entsteht das neue Geschlecht aus Bäumen oder aus Maispflanzen.

Was nun die Entstehung dieser weitverbreiteten Sagen betrifft, so meinte man früher bekanntlich, es lägen dann Erinnerungen an eine wirkliche geologische Flutepoche (Diluvium), aus der die fossilen Tier- und Menschenreste herrührten, und durch welche die Erdoberfläche ihre gegenwärtige Gestalt erhalten hätte, und da sich schon früher theologische Bedenken geregt hatten, woher die ungeheuern Wassermengen gekommen sein sollten, um die ganze Erdoberfläche bis zu den höchsten Bergen zu überfluten, so nahm man an, das Erdinnere sei ehemals mit Wasser gefüllt gewesen, bis die dünne Erdschale einbrach, deren Reste unsre Gebirge vorstellen. In dieser Form hatte Thomas Burnett in seiner »Theoria sacra Telluris« (1682) die Erdgeschichte zu einem vollständigen Roman ausgearbeitet, dem Hallen (1694) und William Whiston in seiner »Neuen Erdtheorie (1696) noch einen großen zerplatzten Kometen als Erdballertränker hinzufügten. Scheuchzer fand die Reste des in der Flut ertränkten sündigen Geschlechts, Buckland schrieb seine »Reliquiae diluvanae« (1822), und noch gläubige Geologen unsrer Tage haben an den Fossilien »Sintflutsgeruch« zu verspüren gemeint.

Nachdem eine genauere Untersuchung der Erdrinde die Theorien der Diluvianisten widerlegt hatte, wandte man sich zu der Annahme, daß lokale Überschwemmungen, die dann und wann einzelne Länder heimsuchten, diese Sagen erzeugt hätten. Aber es darf jetzt als ausgemacht angesehen werden, daß gewöhnliche Überschwemmungskatastrophen derartige