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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Frankreich (Geschichte)

schen Kriegsschiffe, die in französische Häfen einliefen, und alle russischen Offiziere wurden, wo sie offiziell erschienen, mit Jubel begrüßt. Der russische Botschafter in Paris, Baron Mohrenheim, beförderte die Annäherung auf alle Weise. In Rußland hatten die panslawistischen und chauvinistischen Kreise, auch hochstehende Offiziere, wiederholt ihren französischen Sympathien offenen Ausdruck verliehen. Nur der Zar schien sich mit der republikanischen Verfassungsform Frankreichs nicht befreunden zu wollen und auf die Beständigkeit der französischen Regierungen kein Vertrauen zu setzen. Eine französische Ausstellung in Moskau sollte 1891 den Bund der beiden Völker enger schließen. Hierbei blieb aber infolge verschiedentlichen Mißgeschicks der Erfolg aus. Dagegen wurde das erstrebte Ziel in ungeahntem Maße erreicht bei dem Besuch des französischen Panzergeschwaders unter Admiral Gervais in Kronstadt im Juli 1891. Nicht nur wurden die Franzosen von der Petersburger Bevölkerung mit ungeheurer Begeisterung empfangen, sondern auch der Zar empfing die französischen Offiziere und besuchte die französische Flotte; ja, er duldete, daß bei allen Festlichkeiten, an denen die Franzosen teilnahmen, die Marseillaise gespielt wurde, und hörte sie selbst stehend an. An den Präsidenten der französischen Republik richtete er 29. Juli folgendes Telegramm: »Die Anwesenheit des glänzenden französischen Geschwaders, welches gegenwärtig vor Kronstadt ankert, bezeugt abermals die tiefen Sympathien, die F. mit Rußland verknüpfen. Es liegt Mir am Herzen, Ihnen meine lebhafte Befriedigung auszudrücken und Ihnen für das aufrichtige Vergnügen zu danken, welches Ich beim Empfang der wackern französischen Seeleute empfing.« Carnot antwortete: »Ich bin lebhaft gerührt von den Gefühlen, die Ew. Majestät nur anläßlich der Gegenwart unsers Geschwaders auszudrücken geruhten. Unsre wackern Seetruppen werden den herzlichen Empfang nicht vergessen, der ihnen bereitet wird. Ich danke dafür Ew. Majestät und bin glücklich, die glänzenden Kundgebungen zu sehen, die Rußland und F. vereinigen.« Die Franzosen glaubten nun sofort, daß ein Bündnis mit Rußland geschlossen sei, das F. den Wiedererwerb Elsaß-Lothringens und seines »legitimen« Übergewichts in Europa verbürge, und wußten sich vor übermütiger Freude kaum zu lassen. Überall mußte die russische Nationalhymne gespielt werden, und der russische Großfürst Alexis, der nicht lange nachher Paris besuchte, konnte sich kaum vor den zudringlichen Huldigungen retten. In Rußland bekam man Angst vor dieser stürmischen Begeisterung, die F. zu kriegerischen Abenteuern hinreißen könne, während der Zar dem Dreibund wohl einen Schrecken einjagen, keineswegs aber einen Angriffskrieg beginnen wollte. Es wurde daher auch von russischer Seite betont, daß ein förmliches Bündnis zwischen F. und Rußland nicht bestehe, und letzteres bedürfte eines solchen auch nicht, da es bei jedem Konflikt mit Deutschland auf Frankreichs freiwillige Hilfe rechnen konnte. Die französische Presse ließ sich aber nicht beirren, sondern beeilte sich, zu versichern, wenn, wie in dem vorliegenden Fall, die Vernunft mit dem Herzen, das Interesse mit dem Gefühl sich verbinde, so werde die Diplomatie überflüssig. Eine russische Anleihe von 5OO Mill. wurde in F. allein siebenfach gezeichnet, und in jeder diplomatischen Verwickelung leistete die französische Regierung Rußland bereitwillige Dienste.

Immerhin war der Wechsel in der Haltung des Zaren für Frankreichs europäische Stellung von großer Bedeutung. Auch daß die Königin von England das französische Geschwader zu einem Besuch in Portsmouth einlud, wurde als ein Beweis dafür angesehen, daß F. endlich seinen frühern Rang wiedergewonnen habe. Die Reden der Minister bei offiziellen Gelegenheiten zeigten sich daher von Stolz erfüllt. Bei den großen Manövern, welche im September in der Champagne stattfanden, äußerte der Kriegsminister Freycinet, die Tüchtigkeit und Bereitschaft des Heeres seien die Grundpfeiler geworden, auf denen die Annäherung an Rußland sich habe vollziehen können, welche eine Wiedererhebung Frankreichs bedeute; doch werde F. in der neuen Lage Ruhe, Würde und Maßhaltung beobachten. Bei der Enthüllung einer Statue Faidherbes in Bapaume hielt der Minister des Auswärtigen, Ribot, Ende September eine Rede, in der es hieß: »F. wird im Bewußtsein seiner Kraft und im Vertrauen auf seine Zukunft fortfahren, jene Klugheit und Kaltblütigkeit zu bewahren, die ihm die Achtung der Völker eintrugen und die Anlaß waren, daß ihm die Stellung, die ihm in der Welt zukommt, zurückgegeben wurde.« Nicht weniger wichtig war es, daß unter dem Eindruck dieser Ereignisse die bisherigen Gegner der republikanischen Regierungsform in F. die Waffen streckten. Schon 1890 hat der einflußreiche Erzbischof von Algier, Kardinal Lavigerie, sich für den Anschluß des katholischen Klerus an die Republik erklärt, weil er dann Einfluß auf die Regierung erlangen und die Interessen der Kirche wirksam vertreten könne. Der Papst hatte dies Verfahren gebilligt, und mehrere Erzbischöfe hatten sich für die Republik erklärt. Der Bischof von Grenoble sprach es offen aus, daß es gelte, bei den Wahlen alle katholischen Streitkräfte zu vereinigen, in den Kammern die Mehrheit zu gewinnen und dann die Verfolgungsgesetze abzuschaffen. Die Monarchisten hatten sich anfangs gesträubt, diesem Beispiel zu folgen. Aber der Abfall des Klerus beraubte die Partei eines großen Teiles ihrer Anhänger, und als nun nicht bloß der Papst, sondern auch der Zar, also die beiden größten autokratischen Mächte, die es auf der Welt gibt, sich der republikanischen Regierung, zuneigten, veröffentlichte das Organ des Grafen von Paris, der »Soleil«, 15. Aug. einen Artikel, der den einstweiligen Verzicht der Monarchisten auf jede politische Rolle bedeutete: »Als Patrioten freuen wir uns aufrichtig über das Geschehene, und als Philosophen sehen wir der Bewegung zu, welche die französische Nation zur Republik hinreißt. Wir erkennen an, daß die monarchische Partei durch die Morgenröte, welche die Stirn der Republik bekränzt, verdunkelt ist, und wir beklagen uns darüber nicht, denn das Volk wendet sich zur Republik, weil es sich stets dem Erfolg zuwendet. Bei dieser Lage der Dinge können wir, was die Wiederherstellung der Monarchie angeht, nur auf die Vorsehung rechnen, deren Zwecke geheimnisvoll und deren Pläne unergründbar sind.« Der Bonapartismus war seit dem Tode des Prinzen Napoleon völlig ungefährlich, und als Boulanger durch Selbstmord endete, zeigte sich, daß auch die von diesem einst drohende Gefahr gänzlich geschwunden war.

Der Minister des Innern, Constans, bemerkte freilich, die Republik stehe zwar jetzt allen offen, nur müßten diejenigen, die erst neuerdings Anhänger der Republik geworden seien, gehorchen und nicht befehlen wollen. Das zum Teil aus Radikalen zusammengesetzte Kabinett wollte und konnte sich von der radikalen Partei nicht lossagen, die einen Bund mit