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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Höhere Lehranstalten (Reform in Preußen)
behrlichen Gedächtnisstoffes und der Befestigung des Gelernten oder der Erziehung zur selbständigen geistigen Thätigkeit. 2) Demgemäß sind sie als wesentliche Ergänzung des Schulunterrichts besonders für mittlere und obere Klassen zu erachten, aber unter steter Berücksichtigung der körperlichen und geistigen Entwickelung. 3) Ein Teil der bisherigen schriftlichen Hausarbeit kann bei richtiger methodischer Behandlung des Unterrichts in die Schule verlegt werden. 4) Minderung des gedächtnismäßigen Lernstoffes ist insbesondere ins Auge zu fassen für das Auswendiglernen in der Religion, dem Deutschen, in den Fremdsprachen, der Geschichte, der Erdkunde, der Naturbeschreibung und der Chemie.
5) Ein wirksames Mittel zur Verminderung der Hausarbeit ist die methodische innere Verknüpfung verwandter Lehrfächer untereinander und die entsprechende Gruppierung des Lehrstoffes. Diese sind aber nur zu erreichen, wenn wenigstens auf den untern und mittlern Stufen die sprachlich-geschichtlichen Fächer einerseits und die mathematisch-naturwissenschaftlichen anderseits in jeder Klasse thunlichst in eine Hand gelegt werden.
Folgerecht durchgeführt ist für alle höhern Schulen in den neuen Lehrplänen die Zusammenfassung der untern sechs Jahrgänge zu einem in sich abgeschlossenen Ganzen. Diesem Grundsatz gemäß muß überall mit dem 6. Schuljahr bei regelrechtem Fortschreiten des Schülers ein gewisser Abschluß der geistigen Bildung erreicht sein, der den übertritt ins praktische Leben für alle diejenigen Schüler mit Erfolg gestattet, welche nicht auf das höhere Studium an Universitäten und ähnlichen Anstalten hinsteuern. So muß in den Sprachen bis zu dieser Grenze im wesentlichen das grammatische Pensum, so in einem erstmaligen Kursus die gesamte Geschichte bis zur Gegenwart erledigt sein.
Diesem Grundsatze zuliebe verlieren alle bisherigen Anstalten von siebenjährigem Lehrgange (Progymnasien, Realprogymnasien, Realschulen) den obersten Jahrgang oder die Klasse Obersekunda. Demgemäß hat das Staatsministerium gleichzeitig unter königlicher Genehmigung durch Erlaß vom 1. Dez. 1891 das sogen, staatliche Berechtig« ngswesen neu geregelt, so zwar, daß auch in dieser Hinsicht überall im Zivildienst (Subalterndienst) die Notwendigkeit der Primareife oder eines siebenjährigen erfolgreichen höhern Unterrichts zu gunsten der bisher schon für den einjährigen freiwilligen Heerdienst verlangten Reife für Obersekunda (sechsjähriger Lehrgang) in Wegfall kommt.
Diese Reife wird an den sechsjährigen Anstalten (Progymnasien, Realprogymnasien, Realschulen) nach wie vor durch die Reifeprüfung oder Abgangsprüfung am Schlüsse des Lehrgangs erwiesen.
An den mehr als sechsjährigen Anstalten, von denen jetzt allein noch die neunjährigen übrig, durfte bekanntlich bisher nach Erreichung der gleichen Stufe, d. h. gleichzeitig mit der Versetzung nach Obersekunda, diese Reife oder das sie bekundende Zeugnis der wissenschaftlichen Befähigung zum einjährig-freiwilligen Dienste ohne besondere Prüfung erteilt werden. Dem ist nun Ziel gesetzt durch Einschub einer Abschlußprüfung am Schlüsse des 6. Schuljahres. Sie entspricht jener Reifeprüfung der Nichtvollanstalten gänzlich nach den beiden Seiten, daß sie unter dem feierlichen Vorsitz eines königlichen Kommissars (Schulrates aus dem Schulkollegium der Provinz, vertretend auch des Direktors) von den Lehrern der Untersekunda abgehalten, tüch- ^
tigen Schülern aber durch Erlaß der mündlichen Prüfung wesentlich erleichtert wird.
Als Beweggrund für den Einschub dieser bisher unbekannten Prüfung wird in den Erläuterungeil und Ausführungsbestimmungen zu den Prüfungsordnungen zunächst die Billigkeit gegenüber den sechsklassigen Anstalten angeführt. Man hofft dadurch, daß nicht bloß an den höhern Bürger- oder Realschulen, sondern überall fortan nach den ersten sechs Schuljahren dieses Hindernis einer besonder:: Prüfung genommen werden muß, der bisherigen Bevorzugung der Vollanstalten seitens des Publikums den Boden zu entziehen. »Dafür sprach aber auch die Erwägung, daß durch Einlegung der von der Gerechtigkeit geforderten Prüfung an Vollanstalten die Möglichkeit geboten würde, die Reifeprüfung von einer bedeutenden Masse von Gedächtnissioff zu befreien und die Primazeit für ihre eigentliche wissenschaftliche Ausgabe voll auszunutzen.« Denn dadurch, daß bei Übergang von Untersekunda nach Obersekunda das bis dahin erworbene mehr gedächtnismäßige Wissen der Schüler in Zukunft prüfungsmäßig festgestellt wird, ist es möglich geworden, die Reifeprüfung im wesentlichen auf die Lehraufgabe der Prima zu beschränken. Damit entfallen die meisten der bisherigen Wiederholungen für die Zwecke der Prüfung.« Zu dieser erhofften Entlastung der Reifeprüfung der Vollanstalten kommt noch, daß die Bedingungen der Befreiung von der mündlichen Prüfung gegen früher eine wesentliche Erleichterung in mehrfacher Hinsicht erfahren haben. »Zunächst ist wieder eine Befreiung auch von Teilen der Prüfung eingeführt. Dann ist die Befreiung sowohl von der ganzen Prüfung als auch von Teilen der Prüfung nicht bloß für zulässig erklärt, sondern muß jedesmal eintreten, wenn die vorgeschriebenen Bedingungen erfüllt sind. Endlich findet die Befreiung von der ganzen Prüfung wie von einzelnen Teilen schon statt, wenn Klassenleistung und schriftliche Prüfungsarbeiten rückhaltlos genügend genannt werden können, während bisher zum Erlaß der mündlichen Prüfung durchweg genügende und teilweise gute schriftliche Arbeiten vorausgesetzt wurden. Den: gegenüber unterliegt fortan die Ausgleichung nicht genügender Leistungen in einem verbindlichen Fache durch gute Leistungen in einen: andern verbindlichen Fache mehrfacher Beschränkung. Einmal können nicht genügende Gesamtleistungen im Deutschen überhaupt nicht übertragen werden, dann aber ist die, wenigstens theoretische, Möglichkeit ausgeschlossen, daß nicht genügende Gesamtleistungen in Lateinisch und Griechisch an Gymnasialanstalten, in Französisch und Englisch an Realanstalten eine Ausgleichung erfahren.« Auch sonst sind noch einige nähere Winke für diese Gegenrechnung gegeben. Im ganzen ist die Reifeprüfung zweifellos abermals erleichtert; besonders wird fortan der Erlaß der mündlichen Prüfung weit häufiger vorkommen, obwohl vorsorglich dem Prüfling die Freiheit gelassen ist, auf teilweise Befreiung, wenn er glaubt, sich durch den mündlichen Ausweis ein besseres Zeugnis verschaffen zu können, zu verzichten.
Hinsichtlich der Berechtigungen, die an die bestandene Reifeprüfung geknüpft find, bringt unter den Vollanstalten der abgedachte Erlaß vom I.Dez. 1891 nur den Oberrealschulen ein wesentliches Mehr. Die Reifezeugnisse dieser trefflichen, zeitgemäßen Anstalten, denen bisher mit so vieler Ungunst begegnet worden, gelten fortan als Erweise zureichender Schulvorbildung: 1) für das Studium