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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Illegitimität (Statistik der unehelichen Geburten)

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Illegitimität'

welche nach ihren eignen rituellen Gebräuchen, aber nicht nach den staatlichen Normen getraut sind (Rabbinatsehe, einfacher Konsens vor Zeugen oder den Familienmitgliedern), gebornen Kinder seitens der Staatsgewalt folgerecht als uneheliche, während sie nach jüdisch-konfessioneller Ansicht und auch nach der sozialen Auffassung als eheliche zu betrachten sind; man hat diese Kinder als »quasi eheliche« bezeichnet. Schließlich wäre noch 7) auf die große Masse der ausgesetzten oder verlassenen Kinder, resp. Findlinge hinzuweisen. Diese können entweder ehelicher oder unehelicher Geburt sein, wenn sie auch meist der letztern sind; ihren sozialen Verhältnissen nach zeigen sie eine fast vollständige Übereinstimmung mit den unehelich Gebornen, so daß sie bei einer Erörterung dieser letztern nicht unerwähnt bleiben können; man hat deshalb die Findlinge als »quasi uneheliche« bezeichnet. Es sind eben für die erschöpfende Auffassung des Moments der Unehelichkeit drei Gesichtspunkte maßgebend: die auf religiöser Basis beruhende Sitte, das Recht und die sozialen Verhältnisse.

Die Frage der unehelichen Geburten ist in ihrem innersten Wesen eine ethische. So wie die ethischen Anschauungen und Lehren der Völker in ihrer dreifachen Wurzel von Religion, Sitte und sozialen Verhältnissen in geschichtlicher Entwickelung umgewandelt wurden, in derselben Weise haben auch die Ansichten über die Unehelichkeit sich geändert. Damit hat auch das Recht der I. große Wandlungen durchgemacht. Bedenken wir die harten Ansichten und Bestimmungen früherer Jahrhunderte, welche auf den »Bastarden« lasteten, so ist zu konstatieren, daß deren frühere Ausnahmestellung vom Standpunkte der Sitte einer Gleichstellung mit den ehelichen gewichen ist, und daß auch die Rechtsnormen zu einer wesentlichen Erleichterung geführt haben. Die heutigen Rechtsnormen über die Unehelichen umfassen zunächst Bestimmungen über die Definition der Unehelichkeit und dann jene Rechtsfolgen, welche die Thatsache der Unehelichkeit für das natürliche Kind und seine Eltern mit sich führt. Diese Rechtsfolgen sind ausschließlich vermögensrechtlicher Natur und beziehen sich einerseits auf das Erbrecht des unehelich Gebornen gegenüber den Eltern, meist aber nur der Mutter, und anderseits auf die Erhaltung und Erziehung des Kindes durch die Eltern. Was diesen letzten Punkt anbelangt, scheiden sich die Rechtssysteme in zwei Gruppen, nämlich in jenes neuere mit partieller Gültigkeit, welches die Sorge für die Erhaltung des Kindes ausschließlich der Mutter überläßt und den Vater vollkommen außer jeder Beziehung zum unehelichen Kinde stellt (Frankreich, Rheinland, Elsaß-Lothringen, Belgien, die Niederlande, Italien, Rumänien, d.h. die Länder französischer Rechtsanschauung), und in das in den übrigen Staaten geltende allgemeine Recht, nach welchem es gestattet ist, den Umstand der Vaterschaft, die Paternität, gerichtsordnungsmäßig zu beweisen, und aus welchem für den Vater des unehelichen Kindes (nicht nur für die Mutter) Pflichten für die Erhaltung und Erziehung des Kindes erwachsen. Letzterer Grundsatz galt allgemein, bis unter Napoleon I. der Beweis der Paternität verboten und dieselbe als rechtlich irrelevant hingestellt wurde, eine Rechtsanschauung, die dann in einigen Ländern, wie bemerkt, Aufnahme fand. Dieselbe ist zu verwerfen, indem gar nicht abzusehen ist, weshalb der Vater eines unehelichen Kindes anders zu behandeln sein soll wie die Mutter, und mit welchem Rechte die ↔ Folgen einer von zwei Personen begangenen That auf eine derselben und überdies noch die sozial und speziell wirtschaftlich schwächere übergewälzt werden sollen. Abgesehen von diesen Satzungen des bürgerlichen Rechtes gibt es nahezu keine andern, welche sich heute noch auf die Thatsache der Unehelichkeit beziehen, und es ist auch zu sagen, daß nach allgemeiner Anschauung und Volksüberzeugung selbst der niedersten Schichten dem »ledigen Kinde« als solchen kein Makel mehr anhaftet. Nur ist dabei nicht zu übersehen, daß die unehelich Gebornen auch heute noch eine durch besondere Merkmale in populationistischer, ökonomischer und ethischer Hinsicht gekennzeichnete Bevölkerungsgruppe bilden. Diesen Umstand konstatiert und nach allen Richtungen hin klargestellt zu haben, ist das Verdienst der Statistik, vornehmlich der sogen. Moralstatistik, welcher es auch gelungen ist, in der Ethik eine erfreuliche methodische Reform herbeizuführen. So ist die Lehre von den unehelichen Geburten seit einigen Jahrzehnten von der Statistik, speziell der Moralstatistik, in einer gänzlich neuen Weise erfaßt und ausgebaut worden.

I. Statistisch-methodische Vorbemerkungen.

Die Statistik bringt die unehelichen Geburten sowie die andern Thatsachen des Bevölkerungswechsels durch Vermittelung der Matrikelbehörden oder Standesämter zur Verzeichnung. Dabei ist zu betonen, daß sie nur die außer der Ehe gebornen unehelichen Kinder, allerdings die weitaus wichtigste Gruppe derselben, zur Verzeichnung bringt. Demgemäß beziehen sich alle nachfolgenden Darstellungen auf die von nichtverheirateten Frauenspersonen gebornen Kinder. Und doch sind unter Umständen auch die übrigen Arten nicht zu übersehen. So belief sich z. B. die Anzahl der frühzeitig Gebornen, und zwar die in der Ehe vor Ablauf des vollen 7. Monates gebornen Kinder in einigen Gegenden Dänemarks nach Spezialuntersuchungen Rubins und Westergaards (»Statistik der Ehen«, Jena 1890) auf nicht weniger als 25 Proz. aller Gebornen. Dieselben waren also, abgesehen von den etwanigen Frühgeburten, vor Eingang der Ehe konzipiert. Überhaupt behauptet Westergaard und ebenso Geißler, daß etwa die Hälfte der Erstgeburten unehelich erzeugt seien. Noch drastischer liegen die Verhältnisse bezüglich der jüdischen Bevölkerung dort, wo dieselbe ihre Eheschließungen nicht nach staatlichen, sondern rituellen Vorschriften vornimmt; so betrugen die unehelich Gebornen in Galizien 1882: 88,5 Proz. bei den Juden und nur 4-5 Proz. bei den Christen, wogegen es bekannt ist, daß nahezu kein jüdisches Mädchen ledig bleibt, die Judenehen ungemein frühzeitig geschlossen werden und uneheliche Geburten nach jüdischer Auffassung nahezu gar nicht vorkommen.

Zur Bestimmung des Maßes für die I. einer Bevölkerung wäre es eigentlich erforderlich, gelegentlich der Volkszählungen die Frage nach der ehelichen oder unehelichen Geburt zu stellen, was aber überall, wenn auch ohne Grund, unterlassen wird. Es wird vielmehr die Thatsache der Unehelichkeit meist nur bei der Geburt verzeichnet. Dort, wo dies auch bei den Sterbefällen geschieht und überdies die Legitimationen zur Verzeichnung gelangen, kann auf die Verbreitung der Unehelichkeit in einer Bevölkerung geschlossen werden. Die Anzahl der unehelichen Geburten kann in zweifacher Hinsicht zur Bestimmung eines Maßes benutzt werden: das Verhältnis der Zahl der unehelichen Geburten zur Zahl der Geburten überhaupt bezeichnet man als die Frequenz der unehelichen Geburten; diese Ziffer zeigt an, welcher Teil des

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 465.