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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Italien (Geschichte)
im Laufe des Jahres das afrikanische Kolonialunternehmen. Lebhafte Erregung verbreitete sich zunächst im März durch die Enthüllungen des lange in Afrika thätig gewesenen Leutnants Livraghi über Greuel und Gewaltthaten aller Art, welche sich die italienischen Behörden in Massaua aus habsüchtigen Beweggründen gegen viele angesehene Eingeborne hätten zu schulden kommen lassen. Die italienische Regierung sah sich infolgedessen veranlaßt, eine Untersuchungskommission, bestehend aus dein General Driquet, dem Generalprokurator Armò und fünf Deputierten, nach Afrika zu entsenden; aber diese, welche ihrem Auftrag eine sehr weite Auslegung gab, geriet darüber mit dem Chef der Kolonie, dem General Gandolfi, in Konflikt, so daß letzterer seine Entlassung eingab und nur mit Mühe zur Zurücknahme des Entlassungsgesuches veranlaßt werden konnte. Und als dann im November in Massaua der Prozeß gegen Livraghi eröffnet wurde, den die Behörden der Schweiz, wohin er geflohen war, ausgeliefert hatten, da bestätigte sich mehr von seinen Aussagen, als der Regierung lieb sein konnte; namentlich wurde dadurch auch der frühere Gouverneur des italienischen Afrika schwer kompromittiert. Insbesondere aber gestalteten sich die Beziehungen der italienischen Regierung zu dem Negus von Äthiopien, Menelik, sehr wenig erfreulich. Menelik verwarf die italienische Interpretation des § 17 seines mit I. geschlossenen Vertrages, durch welchen er gebunden sein sollte, mit auswärtigen Mächten nur durch Italiens Vermittelung zu verkehren, entschieden; und einer im Frühjahr an ihn abgesandten Mission unter Leitung des Grafen Antonelli gelang es ebensowenig, ihn in dieser Beziehung umzustimmen, wie über die Grenzen des italienischen und des abessinischen Gebiets eine Einigung zu erzielen. So mußte der Gesandte die Verhandlungen abbrechen und unverrichteter Sache zurückkehren.
Unter diesen Umständen sah sich die Regierung veranlaßt, das afrikanische Unternehmen, das sie mit Ehren nicht wieder ganz aufgeben konnte, wenigstens möglichst einzuschränken. Bald nach der Rückkehr Antonellis erklärte Rudini in der Kammer, daß die Regierung beschlossen habe, die italienische Herrschaft nicht über das Dreieck Massaua-Keren-Asmana auszudehnen. Die Organisation der Colonia Eritrea, welche im Januar 1890 von Crispi geschaffen war, wurde behufs Trennung der Zivil- und Militärverwaltung wieder aufgehoben und das ganze Bestreben der Regierung darauf gerichtet, die Kosten der Kolonialverwaltung und der militärischen Besetzung möglichst einzuschränken.
Dies aber hing aufs engste mit der innern Politik der Regierung überhaupt zusammen, welche sich hauptsächlich auf die Herstellung des finanziellen Gleichgewichts richtete. Nachdem die Kammer noch vor den am 21. März beginnenden Osterferien das berichtigte Budget für 1890/91, welches sich ungünstig gestaltete, erledigt hatte, brachte die Regierung in ihren Vorschlägen für das Budget 1891/92 so weitgehende Ersparnisse in allen Zweigen der Verwaltung zur Anwendung, daß die laufenden Ausgaben um nicht weniger als 49, die Ausgaben für Eisenbahnbauten um weitere 19 Mill. herabgesetzt wurden. Nachdem dann die Kammer nach Bewilligung des Budgets zu Anfang des Juli vertagt worden war, sanden in der zweiten Hälfte des Monats mehrere Sitzungen des Ministerrates statt, in denen beschlossen wurde, zur Herstellung des Gleichgewichts in allen Ressorts neue und sehr erhebliche Ersparnisse anzustreben.
Über den Erfolg dieser Bemühungen berichtete Rudini in seiner schon erwähnten Mailänder Programmrede besonders ausführlich; er konnte mitteilen, daß die Ersparnisse des Etats 1892/93 gegenüber demjenigen für 1891/92 abermals bei den laufenden Ausgaben 31 Mill. und bei den Ausgaben für Eisenbahnbauten 41, im ganzen also 72 Mill., von denen ein sehr erheblicher Teil auf die Heeres- und Marineverwaltung fiel, betragen würden. Außerdem kündigte er an, daß es die Absicht der Regierung sei, die Ausgaben der Pensionskasse und diejenigen für Eisenbahnbauten auf den laufenden Etat zu übernehmen, die Staatsschuld aber unter keinen Umständen zu vermehren. Um das zu ermöglichen, seien allerdings außer jenen Ersparnissen noch einige Maßregeln zur Erhöhung der Einnahmen, gewisse Veränderungen der Eingangszölle und der Konzessionsabgaben sowie der Erbschaftssteuer erforderlich; dann aber werde der Etat auch mit einem wirklichen Überschuß abschließen - zum erstenmal seit der Gründung des Königreichs Italien.
Auch abgesehen von diesen finanziellen Dingen kündigte der Minister einige wichtige innere Reformen an. Er stellte die Einführung neuer Verwaltungsbezirke in Aussicht, die als »circoli« je 3-4 der bisherigen Provinzen umfassen sollten; an die Spitze der circoli würden Gouverneure treten, denen ein Teil der bisher von den Zentralbehörden wahrgenommenen Geschäfte übertragen werden sollte. Dagegen sollten die bisherigen Unterbezirke der Provinzen (circondarii) fortfallen und zum Teil durch Zusammenlegung kleinerer Gemeinden zu Samtgemeinden ersetzt werden. Endlich sollte auf dem Gebiete der Sozialgesetzgebung die Fürsorge für Arbeitsunfälle von Staats wegen geregelt werden.
Inzwischen hatte sich die wirtschaftliche Lage Italiens in der zweiten Hälfte des Jahres dank einer namentlich im Süden der Halbinsel überaus glücklichen Ernte erheblich gebessert: in Apulien war der Weinertrag so groß, daß es vielfach an Fässern fehlte, ihn zu bergen. Im November wurde in Palermo unter glänzenden Festlichkeiten in Anwesenheit der königlichen Familie eine nationale Ausstellung eröffnet, die von den industriellen Fortschritten des Reiches Zeugnis ablegte. Im gleichen Monat fand zu München die Unterzeichnung neuer Handelsverträge zwischen I. einerseits und Deutschland und Österreich anderseits statt, welche I. insbesondere durch die Ermäßigung der deutschen Zölle für gewisse Weine ein erweitertes Absatzgebiet für sein wichtigstes Landeserzeugnis in Aussicht stellten.
Am 25. Nov. nahm das Parlament seine Sitzungen wieder auf. Der Eröffnung derselben ging am 23. ein königliches Dekret vorauf, welches die Erhöhung der bisherigen Abgaben auf Zucker, Alkohol, Bier und gewisse andre Artikel, namentlich Luxusgegenstände, bezweckte. Die entsprechenden Gesetzentwürfe wurden in der ersten Kammersitzung vorgelegt; die Regierung gab zu erkennen, daß sie die Annahme dieser Vorlagen als Kabinettsfrage betrachte. Am 1. Dez. gab der Schatzminister Luzzatti eine Übersicht über die Finanzlage, welche in den Hauptpunkten der Mailänder Rede Rudinis entsprach: der Etat für 1892/93, den die Regierung vorlegte, schloß unter Voraussetzung der Genehmigung der vorgeschlagenen Einnahme-Erhöhungen und Ersparnisse mit einem effektiven Überschuß von mehr als 9 Mill. ab. In Bezug auf die wirtschaftliche Lage des Landes konnte der Minister auf eine wesentliche Verbesserung der italienischen Handelsbilanz hin-^[folgende Seite]