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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Musiktheoretische Litteratur - Muskelsinn

zu findende falsche Begründung der Taktlehre. Die Lektüre dieser Vorträge ist deshalb nicht nur musikliebenden Dilettanten, sondern auch den Fachmusikern sehr zu empfehlen. Es thut aber noch mehr not. Was bei Koch und auch bei Küster richtiger Anfang und übrigens im Verfolg mehr oder weniger klar bewußte Richtschnur ist, muß einmal System werden; wie man es mit der Harmonik allein und mit der Melodie allein versucht hat, muß man es auch einmal mit der Rhythmik allein versuchen, d. h. die Prinzipien der Rhythmik müssen einmal, für sich betrachtet, zum Gegenstand eines besondern Zweiges der musikalischen Theorie und des Musikunterrichts gemacht werden; nur wenn diese Bedingung erfüllt wird, wenn einmal ebenso genau untersucht und erkannt worden ist, wie sich der Rhythmus unter dem Einfluß der Harmonik und Melodik gestaltet, wie man durch Jahrhunderte den Einfluß des Rhythmus auf die Harmonie beobachtet hat (man denke nur an die Lehre von der Stellung der Dissonanzen im guten und schlechten Taktteil), ist Aussicht vorhanden, daß eine Kompositionslehre geschrieben werden kann, wie sie Marx schreiben wollte.

In dieser Phase der Entwickelung der Musiktheorie stehen wir jetzt. Der Mann, dem das Verdienst gebührt, zuerst das Wort ausgesprochen zu haben, welches die über unsern Augen liegende Binde löst, ist Rudolf Westphal. Jahrzehntelange Beschäftigung mit der Rhythmik der Griechen wie auch der modernen poetischen Metrik, von der eine stattliche Reihe angesehener Publikationen zeugt (»Metrik der griechischen Dramatiker und Lyriker«, 1854-65, 3 Bde.; 2. Aufl. 1868, mit Roßbach; »Die Fragmente und Lehrsätze der griechischen Rhythmiker«, 1861; »System der antiken Rhythmik«, 1865; »Theorie der neuhochdeutschen Metrik«, 1870; 2. Aufl. 1877), befähigte den Nichtmusiker, den Musikern zu sagen, was ihnen not thut. Das Buch »Allgemeine Theorie der musikalischen Rhythmik seit J. S. Bach« (1880) sprach es aus, daß unser Verständnis für Rhythmik ganz unglaublich verkümmert ist, und daß wir in Theorie und Praxis nur noch von Taktstrich zu Taktstrich empfinden, was der größte Fehler sei, der auf diesem Gebiet überhaupt möglich wäre. Es ist hier nicht der Ort, diese Verirrung historisch zu erklären; es sei nur betont, daß sie in den letzten 100 Jahren sich immer verhängnisvoller entwickelt hat. Daß unsre großen Komponisten sie nicht teilten, sei freudig konstatiert; aber sie danken das nicht ihren innigen Beziehungen zur Theorie (diese Beziehungen waren gerade bei den größten Meistern dieser Epoche sehr lose), sondern der Unverdorbenheit und Unverderbbarkeit ihrer Naturanlage. Als Vorläufer von Westphals Schrift und ihren Enthüllungen muß Mathis Lussys »Traité de l’expression musicale« (1873) genannt werden, sofern Lussy als feinfühliger Praktiker gegen die verkehrten Auffassungen und verkehrten Bogenbezeichnungen vieler Einzelstellen in unsern Klassikerausgaben protestiert; die Anläufe zu einem System der Rhythmik, die Lussy macht, sind dagegen nur teilweise geglückt, zum Teil wirklich verfehlt. Daß Westphal seine Aufgabe nicht vollständig gelöst hat, braucht nicht erst behauptet zu werden; es ist selbstverständlich, und zwar darum, weil Westphal absoluter Rhythmiker ist, und die gar sehr großen Einflüsse, welche Harmonik und Melodik auf die Gestaltung der Rhythmen haben, nicht in Betracht gezogen hat. Andeutungen hierüber machte H. Riemann in verschiedenen Aufsätzen über »Phrasierung« (in den »Grenzboten«, dem »Klavierlehrer« und »Musikalischen Wochenblatt«) sowie in seiner »Vergleichenden Klavierschule« (1883, »System« und »Methode«) und in dem grundlegenden Werke »Musikalische Dynamik und Agogik, Lehrbuch der musikalischen Phrasierung auf Grund einer Revision der Lehre von der musikalischen Metrik und Rhythmik« (1884; vgl. auch H. Riemann und Karl Fuchs, »Praktische Anleitung zum Phrasieren«, 1886) und entwarf einen vollständigen Neuaufbau der Formenlehre in seinem »Katechismus der Kompositionslehre« (1889). Ein bedeutsames Ergebnis der Riemannschen Theorie der Phrasierung ist eine Verfeinerung der Notenschrift in seinen einen großen Teil der Klavierlitteratur umfassenden sogen. Phrasierungsausgaben, welche gerade im kleinen den Aufbau der Tonstücke anschaulich darlegen. Bedeutsame Erscheinungen auf dem neuen Gebiete der Litteratur der Phrasierungstheorie sind die Schriften von Karl Fuchs: »Die Zukunft des musikalischen Vortrags« (1884) und »Die Freiheit des musikalischen Vortrags« (1885). Schätzbare Beiträge zu einer Theorie des musikalischen Ausdrucks gab auch O. Klauwell (»Der Vortrag in der Musik«, 1883). Einen nur wenig glücklichen Versuch, um Riemann herum oder über ihn hinauszukommen, machte O. Tiersch mit seiner »Rhythmik, Dynamik und Phrasierungslehre« (1886). Bemerkenswerte Ansätze zu einem Fortschritt in der Theorie des Vortrags enthält A. I.^[korrekt A. F.] Christianis nachgelassenes Werk »Das Verständnis im Klavierspiel« (1886). Auch der Amerikaner W. S. B. Mathews (»How to understand music«, 1888, 2 Bde.) bemüht sich eifrig um die Klarlegung der Elemente der Formenlehre. Die Schwierigkeit, einen Weg zu finden, wie man die musikalische Rhythmik, deren Theorie jetzt ihren Ausbau erfährt, rationell lehren könne, d. h. nicht vom Katheder, sondern mit fortlaufender praktischer Übung, ist gehoben, seit das Musikdiktat sich als vorzüglichstes Mittel, die Auffassung und Vorstellung von melodisch-rhythmischen Tonbildern zu kräftigen und systematisch fortzubilden, herausgestellt hat (vgl. Riemann, »Katechismus des Musikdiktats«, 1889). Für die Formenlehre und Instrumentationslehre sind noch zu registrieren: Jadassohn, »Die Formen in dem Wesen der Tonkunst« (1889) und »Lehrbuch der Instrumentation« (1889), durch welche Jadassohns »Kompositionslehre« mit dem vierten und fünften Bande ihren Abschluß erhalten hat; ferner Eb. Prouts »Elementarlehrbuch der Instrumentation« (1880) und Riemanns »Katechismus der Musikinstrumente« (1880). Eine hochbedeutende Erscheinung aber ist die neue große »Instrumentationslehre« (»Traité des instruments«) von Fr. Aug. Gevaert (1885; deutsch von H. Riemann, 1887), ein Werk, das dem Berliozschen vollständig gleichwertig, in vieler Beziehung aber ihm überlegen ist. Die Fortsetzung desselben: »Anleitung zum Instrumentieren« (»Cours méthodique d’orchestration«) ist erst zur Hälfte erschienen (1890). Der bekannte belgische Musikgelehrte zeigt sich in beiden Büchern als ein Lehrmeister ersten Ranges.

Muskelsinn. Die psychologischen Untersuchungen der letzten Jahre haben zu einem auffallend großen Teile sich mit dem M. beschäftigt. Man ist zu der Einsicht gelangt, daß die Empfindungen der Spannung und Bewegung nicht nur an sich ein hohes Interesse darbieten, sondern auch für das Verständnis andrer seelischer Zustände von entscheidender Bedeutung sind. Bei Größenvergleichungen des Auges pflegen Bewegungen stattzufinden, kommen also Muskelempfindungen, sei es helfend oder störend, ins Spiel; ähnliche Empfindungen im Kehlkopf haben