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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Rust - Rzach
sammengehen Deutschlands mit England für die Zukunft besorgen ließ. Und so entschloß sich der Zar, den Besuch eines großen französischen Geschwaders im Juli in Kronstadt zu empfangen. Bei diesem kam der in den russischen Regierungskreisen herrschende Deutschenhaß dadurch zum Ausdruck, daß man die Franzosen mit Begeisterung aufnahm und sie mit Kundgebungen der Freude und Zuneigung überhäufte. Der Zar empfing die Offiziere des Geschwaders und duldete, daß die Marseillaise neben der russischen Nationalhymne gesungen und gespielt wurde. Er richtete an den Präsidenten der franzö fischen Republik, Carnot, ein schmeichelhaftes Telegramm, und wenn auch wohl kein förmliches Bündnis zwischen Rußland und Frankreich abgeschlossen wurde, so wurde doch unzweifelhaft durch diplomatische Noten eine Übereinkunft getroffen, nach welcher beide Mächte in wichtigen Fragen gemeinschaftlich zu handeln sich verpflichteten. Noch überschwenglicher waren die Huldigungen, welche in Moskau den Franzosen dargebracht wurden. Während in Frankreich kühne Hoffnungen auf Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens an den »Zweibund< mit Rußland geknüpft und in dieser Hoffnung alle auf französischem Boden oder in französischen Häfen erscheinenden Russen, Großfürsten, Diplomaten, Kriegsschiffe 2c. gefeiert wurden, benutzte die russische Regierung die neugewonnene Freundschaft, um eine Anleihe von 500 Mill. auf dem französischen Markte unterzubringen. Dieselbe wurde auch in Frankreich allein siebenfach gezeichnet, sank aber sehr bald unter ihren Ausgabekurs, wie denn auch der vom Finanzminister künstlich in die Höhe getriebene Rubelkurs außerordentlich schnell und sehr stark fiel (f. oben).
Im Vertrauen auf die Besserung der finanziellen Lage, die Wyschnegradski erreicht hatte, und die unerschütterliche Macht des Reiches fuhr die Regierung 1891 fort, das Heer zu vermehren und für den geeigneten Augenblick des Eingreifens in die Verhältnisse Europas an der West- und Südgrenze anzuhäufen. Im Innern fuhr sie fort, die nicht russische und nicht orthodoxe Bevölkerung zu unterdrücken.
Die Sonderrechte Finnlands wurden immer offener angegriffen, das Deutschtum und die lutherische Kirche in den Ostseeprovinzen rücksichtslos unterdrückt. Die Kinder lutherischer Konfession in den russischen Elementarschulen wurden gezwungen, am Unterricht inder griechisch-orthodoxen Religionslehre teilzunehmen und eine Prüfung in derselben abzulegen. Die Judenverfolgungen dauerten fort. Da die aus dem Innern Rußlands ausgewiesenen Juden in den Westprovinzen unmöglich Unterkommen finden konnten, wanderten sie in Scharen aus. Der schwere materielle Schade, der durch die Vertreibung der Juden dem Handel und Gewerbe zugefügt wurde, focht die Regierung wenig an; empfindlicher war, daß eine neue Umwandlungsanleihe, die der Finanzminister plante, an dem Widerstände des Hauses Rothschild scheiterte. Noch schwerer jedoch wurde Rußland dadurch betroffen, daß die Ernte des Sommers 1891 in einem großen Teile des Reiches (21 Gouvernements) schlecht war. Namentlich der Ertrag an Roggen war so gering, daß die Regierung 11. Aug. ein Ausfuhrverbot für Roggen erließ, dem dann auch das Verbot der Ausfuhr der andern Feldfrüchte, zuletzt des Weizens, folgte. Zur Ernährung der Bevölkerung und zur Anschaffung von Saatkorn wurden den von der Mißernte betroffenen Kreisen bedeutende Geldbeiträge aus der Staatskasse (über 60 Mill. Rubel) angewiesen, bei deren Verteilung und
Verwendung sich freilich die Unfähigkeit und Bestechlichkeit der Beamten und die stumpfe Sorglosigkeit der Bauern in nachteiligster Weise geltend machten; die Trunksucht der Bauern in den notleidenden Provinzen nahm zu, statt ab. Daß der Zar in dieser schweren Zeit erst lange Wochen im Ausland, auf Schloß Fredensborg in Dänemark, dann in Livadia auf der Krim und nicht in der Hauptstadt weilte, wurde ihm selbst in Rußland verdacht, und es tauchten wieder Gerüchte von Verschwörungen ans. Die Finanzen und der Kredit des Reiches mußten doppelt leiden: einmal durch die Vermehrung der außerordentlichen Ausgaben, dann infolge der Verminderung der Einnahmen aus den Steuern. Vergeblich waren alle Bemühungen des Finanzministers, die schwierige innere Lage zu verhüllen. Anfang Dezember sah sich der Kaiser veranlaßt, einen besondern Ausschuß zur Unterstützung der Notleidenden unter dem Vorsitz des Großfürsten-Thronfolgers einzusetzen, welcher besonders die Wohlthätigkeit der Privatkreise wecken und ihr eine angemessene Leitung und die notwendige Einheit im Vorgehen geben sollte; alle bereits bestehenden Komitees wurden angewiesen, die von ihnen gesammelten Beiträge an den Ausschuß abzuliefern. Ferner wurde eine Kommission berufen, öffentliche Arbeiten in den bedrängten Gouvernements ausführen zu lassen. Im ganzen wurden bis zum Frühjahr 1892 über 150 Mill. vom Staat für den Notstand geopfert. Nicht bloß die Finanzlage, sondern auch die auswärtige Politik wurde hierdurch beeinflußt. Obwohl der Finanzminister Wyschnegradski alles aufbot, um seine herrschende Stellung zu behaupten, und auch durchsetzte, daß die strengen Maßregeln gegen die Ausländer und die Juden aufrecht erhalten wurden, mußte er doch im Frühjahr 1892 längern Urlaub nehmen.
Zur Litteratur: A. Springer, Der russisch-türkische Krieg 1877-78 in Europa (Wien 1891-92); Petrow, Der russische Donaufeldzug im 1.1853-1854 (deutsch bearbeitet von Regenauer, Berl. 1891); v. Samson-Himmelstjerna (V. Frank), Rußland unter Alexander III. (Leipz. 1891); Derselbe, Die Verlumpung der Bauern und des Adels in Rußland (das. 1892).
Ruft, 3) Wilhelm, Organist und Musikschriftsteller, starb 2. Mai 1892 in Leipzig.
Ruth, Emil, Historiker, geb. 14. Febr. 1809 zu Hanau, studierte in Marburg, München und Heidelberg Philologie und Geschichte, lebte später in Florenz, seit 1844 in Heidelberg, wo er sich als Privatdozent für italienische Sprache und Litteratur habilitierte und 1867 zum Professor ernannt wurde; starb 28. Aug. 1869 daselbst. Er schrieb: »Geschichte der italienischen Poesie« (bis Tasso; Leipz. 1844-1647, 2 Bde.); »Studien über Dante« (das. 1853); »Geschichte des italienischen Volkes unter der Napoleonischen Herrschaft« (das. 1859); »Geschichte von Italien von 1815 bis 1850« (Heidelb. 1867, 2 Bde.).
Rzach, Alois, klaff. Philolog, geb. 16. Nov.
1850 zu Patzau in Böhmen, studierte in Prag, Bonn, Leipzig und Berlin, wurde 1872 Lehrer am Kleinseitener Obergymnasium in Prag, habilitierte sich 1876 an der dortigen Universität und wurde 1883 außerordentlicher, 1687 ordentlicher Professor. Außer einer Reihe von kleinern Aufsätzen und Rezensionen veröffentlichte er: »Über strophische Wort- und Gedankenresponsion in den Chorliedern der Sophokleischen Dramen? (Prag 1874); »Hesiodische Untersuchungen« (das. 1875); »Der Dialekt des Hesiodos« (Leipz. 1876); »Grammatische Studien zu Apollonios