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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Sozialdemokratie (Einnahmen und Ausgaben 1890/91; Parteipresse)
und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung Politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.
2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Vcrwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Ttcuerbcwilligung,
3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlicheni Wege.
4) Abschaffung aller Gesel'.e, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.
5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und ftrivatrechtlicher Beziehung dein Manne unterordnen.
6) Erklärung der Religion zur Privatfache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen nnd religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.
7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel uud der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen sowie in den höhern Bildungsanstalten für diejenigen Schüler uud Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur Ausbildung geeignet erachtet werden.
8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes.
Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Nichter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe.
9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbcstattuug.
10) Stufenweise steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch 3teucrn zu decken sind. Selbsteinschätzuugspfticht. Erbschaftssteuer, '"tufenweise steigend nach Umfang des Erbautes und Entfernung der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischcn Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.
Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:
1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutz« gesctzgebnng auf folgender Grundlage: a) Festsetzung eines höchstens8 Stunden betragenden Normalarbeitstages; d) Verbot der Grwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; e) Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt, Nachtarbeit erheischen; cl) eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter; e) Verbot des Trucksystems.
2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Neichsarbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.
3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der
Geimdeordnungen.
4) Sicherstellung des Koalitionsrechts.
5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.
Über die Vertretung der S. im deutschen Reichstag vgl. den Art. Volksvertretung. Während von der Gesamtzahl aller Stimmen diejenigen, welche auf sozialdemokratische Kandidaten entfielen, früher nur einen geringen Prozentsatz ausmachten, stellte sich 1690 der Anteil bereits nahezu auf ein Fünftel. Bei der ersten ordentlichen Wahl wurden für die S. abgegeben:
1871 1874 ! 1877 ^^ 1878 ^^ 1881 ^^ 1884 s 1887^ 1890
1000 Stimmen Proz. der Gesamtzahl .
124,?
3,02
352,0 «493,3
6,78 9,14
437,1 312,u 550,0
',59 6,12
9,68
763,1
10,ii
1427.3
19,74
lGinnalimen, Ausgaben.^ Nach dem von der Parteileitung der deutschen S. 1891 in Erfurt mitgeteilten Bericht hatte die Partei in der Zeit vom 1. Okt.
)890 bis 30. Sept. 1891 im ganzen eingenommen: 223,867 Mk., darunter 168,845 Mk. an freiwilligen Beiträgen, 5691 Mk. au Zinsen, 9352 Mk. als Rückzahlung von Darlehen und 38,909 Mk. als Überschuß des Parteiorgaus »Vorwärts«. Die Ausgaben waren in dieser Zeit: 134,950 Mk. Dann wurden verwandt für Unterstützungen an Personen oder Angehörige von Personen, welche infolge ihrer Parteithätigkeit geschädigt oder gemaßregelt wurden, 10,749 Mk., Prozeß- und Gefängniskosten 5987 Mk., für die Wahlagitation 8447 Mk., für die allgemeine Agitation 31,480 Mk., worin auch die Beihilfen inbegriffen sind, welche notleidende Lokalblätter aus der Parteikasse erhielten. Außerdem wurden Zuschüsse gewährt für die für die polnischen Landesteile berechnete »(^26tk Kodotuic^« 2776Mk. und für die »Elsaß-Lothringische Volkszeitung« 16,603Mk. Die Ausgaben für den Reichstag stellten sich auf 15,707 Mk.
Seither waren den Reichstagsabgeordneten für den Aufenthalt in Berlin täglich 5 Mk. gewahrt worden.
Dieser Satz wurde, weil er zu niedrig sei, auf6Mk. erhöht. Außerdem wurden an Wohnungsgeld für die Abgeordneten, welche eine besondere Wohnung zu nehmen gezwungen sind, monatlich 25 Mk. bewilligt.
Fraktionsmitglieder, welche ein eignes Geschäft haben und in demselben geschädigt werden, erhalten täglich9 Mk. statt 6 Mk. In Berlin oder dessen nächster Umgebung wohnende Fraktionsmitglieder erhalten für den Tag, an welchem sie einer Sitzung beiwohnen,3 Mk., und wenn sie geschäftlich geschädigt werden, 6Mk. Eine Anzahl besser gestellter Fraktionsmitglieder verzichtet auf Entschädigung. Diäten werden nur für die Tage der Anwesenheit in Berlin und die Reisetage bezahlt. Die Verwaltungsausgaben beliefen sich auf 16,852 Mk. Dieselben enthalten die Umzugskosten der Sekretäre, die Einrichtungskosten des Bureaus, die Ausgaben für Miete 2c., ferner die Kosten für zwei Telephone und die Ausgaben für die Konferenzen der gesamten Parteileitung und die Gehalts der Vorstandsmitglieder. An Gehalt werden monatlich gezahlt: für zwei Sekretäre je 25s) Mk., für einen Hilfssekretär 120 Mk., für den Kassierer 150 Mk., für die beiden Vorsitzenden je 50 Mk. Auf Gesamtbeschluß des Vorstandes ist )^s Mitglied verpflichtet, den ihm bestimmten Gehalt anzunehmen, doch ist ihm unbenommen, in Form freiwilliger Beiträge an die Kasse ganz oder teilweise auf denselben zu verzichten, wovon Gebrauch gemacht wurde. Darlehen wurden gewährt im Betrage von 25,562 Mk.
Unter denselben befinden sich 8000 Mk. Kautionsleistungen für verhaftet gewesene Parteigenossen, 4000 Mk. für eine Hypothek auf eiu früher der Partei gehöriges Grundstück, die inzwischen wieder zurückgezahlt wurden, ferner 6000 Mk. an verschiedene in augenblickliche Notlage gekommene Lokalblätter.
l Partciprefse.i Die sozialdemokratische Presse hat, nachdem das Sozialistengesetz außer Kraft getreten, einen erheblichen Aufschwung genommen. Vor Erlaß dieses Gesetzes verfügte die Partei über 41 politische Zeitungen, 15 Gewerkschaftsblätter und 1 illustriertes Unterhaltungsblatt, die wöchentlich in IV2 Bogen Umfang erschienene »Neue Welt«. Parteiorgan warderin Leipzig herausgegebene »Vorwärts« (an Stelle des frühern »Volksstaat«). Eine wissenschaftliche Zeitschrift der Partei erschien halbmonatlich unter dem Titel: »Die Zukunft <, während in Zürich eine wissenschaftliche Monatsschrift: »Die neue Ge-