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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Volksvertretung (Deutsches Reich, Frankreich)
Neichsgcsetze erforderlichen Verwaltungsvorschriften' zu beschließen. Die Vorlagen sür den Reichstag werden nach den Beschlüssen des Bundesrates an den Reichstag gebracht und in demselben durch Mitglieder des Bundesrates oder durch besondere, von letzterm ernannte Kommissare vertreten. Die Mitglieder haben das Recht, jederzeit im Reichstag zu erscheinen und dort die Ansichten ihrer Regierungen zu vertreten. Den Vorsitz im Bundesrat hat der Reichskanzler. Der Reichstag besteht aus 397 Mitgliedern, vom deutschen Volk durch allgemeine und direkte Abstimmung auf 5 Jahre gewählten Abgeordneten, welche keine Diäten erhalten. Zur Wahlberechtigung wie zur Wählbarkeit sind 25 Lebensjahre erforderlich.
Die Beamten des Reichstags für die Legislaturperiode 1890- 95 sind 1 Präsident, 2 Vizepräsidenten, 8 Schriftführer, 2 Quä'storen und 1 Direktor.
Weiteres s. Bd. 4, S. 837.
Der deutsche Reichstag steht gegenwärtig in seiner achten Legislaturperiode. Seit den ersten Wahlen 1871 haben sowohl hinsichtlich der Teilnahme der Bevölkerung an den Wahlen als hinsichtlich der Zahl und Stärkeverhältnisse der Parteien sich ganz außerordentliche Veränderungen vollzogen. Während 1871 die bei den entscheidenden Wahlen abgegebene Stimmenzahl 4,154,200 betrug, erreichte'dieselbe 1890: 7,337,900, ein schlagender Beweis für die wachsende Teilnahme am politischen Leben, wenngleich dabei auch in Betracht zu ziehen ist, daß die Bevölkerung Zwischen 1871 und 1890 von 41 auf 46.8 Mill. und die Zahl der Wahlberechtigten von 7,975,800 auf 10,145,900 stieg. Bei dem ersten Zusammentreten des Reichstags 1871 gab es 12 Parteien, uud diese Zahl besteht auch noch heute, nachdem jedoch eine Partei im Laufe der Zeit sich mit zwei ihr nahestehenden Gruppen verschmolzen, eine andre, die der liberalen Reichspartei, verschwunden, eine dritte, die der Antisemiten, seit 1887 neu entstanden ist.
Zusammenstellung des Reichstags in den Legislaturperioden 1871-90:
1871
1381
1590
1890
Teutschkonservative...... 57 50 70
Deutsche Reichspartei (Freikonscrv.) I 37 28 19
liberale Reichsftartci.....< A0 - Nationalliberale < »47j 42
L berale Vereinigung j Deutsch- j ^^ >4<i< !
Fortschrittspartei )) freisinnige. 46 <>0 !
Zentrum......... 61 100 105
Polen.......... 13 18 16
Sozialdemolratcn...... 2 12 35
Volkspartei ........ 1 9 9
Weifen.......... 9 10 11
Elsässer.......... 15 15 10
Dänen.......... 1 2 1
Antisemiten........ - - 5
Nnbestimmt..... .. .. - - 8
Auffallend ist das mächtige Anwachsen des Zentrums, ebenso das der Fortschrittspartei, verhältnismäßig noch bedeutender ist aber die Zunahme der Zahl der Sozialdemokraten, wogegen die einst so starke Partei der Nationalliberalen auf ein Drittel, die der Elsässer auf zwei Drittel ihrer ehemaligen Stärke gesunken sind und auch die konservativen Parteien nicht unerheblich eingebüßt haben. Daß die gegenwärtige Zusammensetzung des Reichstags indes keineswegs ein getreues Bild der unter den Wählern vertretenen politischen Richtungen widerspiegelt, beweist die nachfolgende Zusammenstellung der für die Kandidaten der einzelnen Parteien abgegebenen Stimmen (in
Tausenden).
Deutschkonservative......
Deutsche Neichspartci.....
liberale Ncichdpartei.....
Nationalliberale j
Liberale Vereidigung j Teutsch- j Fortschrittspartei j freisinnige.
Zentrum.........
Polen..........
Cozialdemokratcn......
Vulkspartei........
Welsen und Partikularsten. .. .
Glsässer..........
Dänen..........
Antisemiten .......
Unbestimmt und zersplittert. .. .
Danach entfielen die meisten gültigen Stimmen zunächst auf Kandidaten des Zentrums, der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen, der Deutschfreisinnigen und der Teutschkonservativen, in größerm Abstand folgt dann die Reichspartei, in noch weiterm die Polen, Volkspartei, Welsen, Elsässer 2c. Es ergibt sich daraus, daß ein die Kopfzahl der Wähler nach ihren politischen Richtungen wahrhaft entsprechend vertretener Reichstag sich in Gemäßheit der obigen Stärkeverhältnisse zusammensetzen sollte. Daß dies nicht der Fall ist, darf man freilich im Hinblick auf die gewaltig angeschwollene Stimmenzahl der Eozialdemokraten nicht beklagen. Neben den Sozialdemokraten ist besonders das Anwachsen der Deutschfreisinnigen und des Zentrums auffallend, während die stimmen der Elsässer auf sehr erheblich weniger als die Hälfte heruntergegangen sind. Bemerkenswert ist das Anwachsen der süddeutschen demokratischen Partei, welche bei den Wahlen von 1887 keinen einzigen Kandidaten durchbrachte, seit 1890 aber durch 10 Abgeordnete vertreten ist, und deren Stimmenzahl seit 1870 um das Achtfache anwuchs.
^Frankreichs Nach der Verfassung vom 24. Febr.
1875, wiederholt ergänzt, zuletzt 16. Juli 1885, wird die Nationalversammlung von zwei Kammern gebildet, welche sich jährlich versammeln, dem Senat und der Deputiertenkammer. Der Senat besteht aus 300 Mitgliedern, von denen 247 durch besondere Wahlkommissionen der Departements und Kolonien auf 9 Jahre gewählt find und alle 3 Jahre zu ewem Drittel erneuert werden. Die übrigen53sind lebenslängliche Senatoren, der Rest der75 ursprünglich von der Nationalversainmlung und dem Senat auf Lebenszeit gewählten Senatoren, welche unabsetzbar sind, aber seit 1884 nach ihrem Aussterben ebenso wie die übrigen ergänzt werden. Bei Beginn der ersten Session werden die gewählten Senatoren in drei an Zahl gleich starke "Serien geteilt und hierauf durch das Los die Serien bestimmt, welche nach Ablauf des ersten und zweiten Trienniums zu erneuern sind.
Die Deputiertenkammer besteht aus 584 Mitgliedern (je 1 für 70,000 Einw.), worunter 6 aus Algerien, 10 aus den Kolonien, welche departementsweise seit 1885im Negedes Listenskrutiniums durch direkte allgemeine Wahlen auf 4 Jahre gewählt werden. Nach dem Gesetz vom 15. März 1849 sind zur Wahlberechtigung 21, zur Wählbarkeit 25 Lebensjahre erforderlich. Aktive Militärs sind weder wahlberechtigt noch wählbar, ebenso sind die meisten Staatsbeamten nicht wählbar. Der Senat teilt mit der Deputiertenkammer die Initiative bei der Abfassung der Gesetze, doch müssen die Finanzgesetze zuerst der Deputiertenkammer vorgelegt und von ihr genehmigt werden.
Der Senat tritt als Gerichtshof zusammen, um den