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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Ägypten (alte Kultur. Religion)

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Ägypten (alte Geschichte)'

Heliopolis genoß der Gott Atum besondere Verehrung, in Memphis der Gott Ptah, von dem man glaubte, daß er als Maurer und Zimmermann die Welt gebaut habe. Viele dieser Lokalgötter hatten keinen besondern Namen, sondern wurden nach ihrem Hauptverehrungsorte benannt; so hieß z. B. der Gott von Ombos kurzweg «der von Ombos», die Göttin der Deltastadt Bast (Bubastis) «Bastet» (d. h. «die von Bast») u.s.w. Die Götter selbst stellte man sich als Menschen vor, mit menschlichen Tugenden und Leidenschaften begabt, viele von ihnen als vermählt. So verehrte man in Theben neben Ammon seine Frau Mut und ihren Sohn Chons, in Memphis neben dem Ptah seine Gemahlin Sechmet und beider Sohn Imhotp. Auch menschlichen Schicksalen waren die Götter unterworfen. In Abydos erzählte man von dem Gotte Osiris, daß sein böser Bruder Set ihm nachgestellt und durch List getötet habe; als des Osiris Sohn Horus unter Obhut seiner Mutter Isis herangewachsen war, sei er ausgezogen, um den Mord seines Vaters zu rächen, und habe mit Set einen schweren Kampf zu bestehen gehabt, ihn aber endlich besiegt.

Neben diesen menschlichen Göttern wurden auch Tiere, die den Menschen durch besondere Eigenschaften Bewunderung oder Furcht einflößten und die man infolgedessen für den Sitz übernatürlicher Kräfte hielt, und selbst leblose Gegenstände (Säulen, Bäume) verehrt. In Ombos und in Fajum hielt man die Krokodile für heilig, in Bubastis die Katzen, in Hermopolis die Ibisse. Besonders groß war die Zahl heiliger Stiere und Widder, die wohl wegen ihrer Zeugungsfähigkeit die Bewunderung des Menschen auf sich gelenkt hatten. Da man aber meist nicht im stande war, die ganze Species des heiligen Tiers im Kultus zu verehren, so wählte man ein durch gewisse Eigenschaften ausgezeichnetes Exemplar aus, dem man göttliche Ehren erwies, z. B. in Memphis den Apis (s. d.). Es lag nun nahe, das in einer Stadt als heilig betrachtete Tier mit dem Lokalgott des betreffenden Ortes in Beziehung zu setzen. Man hielt das Tier für die sichtbar gewordene Gottheit, ihre Manifestation oder Inkarnation. So wurde der Apisstier als der Sitz des Ptah angesehen; Chnum von Elephantine und Ammon von Theben manifestieren sich als Widder, der im Fajum verehrte Gott Sobk als Krokodil, die Göttin Bastet als Katze, die Göttin Hathor von Dendera als Kuh, der Gott Thoth von Hermopolis als Ibis. Wollte man diese Beziehung des Gottes zu seinem heiligen Tiere auch äußerlich zur Anschauung bringen, so schlug man den eigentümlichen Weg ein, der in Menschengestalt gebildeten Gottheit den Kopf des ihr heiligen Tieres zu geben. So sind die tierköpfigen Göttergestalten entstanden (der widderköpfige Ammon oder Chnum, der krokodilköpfige Sobk, die katzenköpfige Bastet u.s.w.). Die Ägypter wollten dadurch, daß sie gewissen Gottheiten einen Tierkopf gaben, dasselbe ausdrücken, was die kleinasiat. Völker thaten, indem sie den Gott oder die Göttin auf ein Tier stellten, oder die Griechen, indem sie neben die Gottheit (z. B. Zeus, Athene) das ihr heilige Tier (z. B. Adler, Eule) setzten.

Neben der Verehrung der lokalen Götter ging nun der Glaube an überirdische Wesen, die die Welt erschaffen und den Lauf der Natur lenken, einher. Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne (Orion, Sothis), der Nil und andere Naturmächte wurden wohl ohne lokale Unterschiede und örtliche ↔ Begrenzungen im ganzen Lande verehrt. Nur über das Verhältnis dieser Wesen zu einander und die Vorstellungen, die man sich von ihrer Erscheinung machte, wichen die Ansichten in den verschiedenen Priesterkollegien voneinander ab. Während man an einem Orte meinte, daß der Sonnengott Rê in einer Barke über den Himmelsocean fahre, sah man an andern die Sonne für einen Sperber an, der mit buntem Gefieder über den Himmel fliegt und die feindlichen Wolken verjagt, oder man denkt sich die Sonne als einen kräftigen, jungen Helden, der an jedem Morgen von der Himmelsgöttin neu geboren wird und mit den feindlichen Mächten der Finsternis einen beständigen Kampf zu bestehen hat. In Heliopolis scheint die Lehre vom Rê besonders genau ausgebildet worden zu sein; man stellte ihn dem lokalen Gotte Atum gleich und hielt auch diesen für einen Lichtgott. Atum habe zwei Kinder gehabt, den Gott Schu und die Göttin Tefnut, die dann den Himmel und die Erde, die Göttin Nut und den Gott Keb, die bis dahin vereint gewesen waren, voneinander trennten, indem sie die Himmelsgöttin in die Höhe hoben. Aus der Ehe der Gottheiten Keb und Nut gingen vier Kinder hervor: Osiris, Isis, Nephthys und Set, deren Schicksale das allgemeine Geschick des Menschen wiedergeben. Osiris wird durch Set ermordet und somit kommt, ähnlich wie durch den Totschlag Kains, der Tod in die Welt. Das System von Heliopolis, die lokalen mit den kosmogonischen Göttern zu verbinden, aus dem sich dann eine Neunzahl von Göttern, ein Götterkreis, ergab, fand auch bei andern Priesterschaften Beifall. Es wurde je nach den lokalen Verhältnissen umgestaltet, indem man vor allem an Stelle des Atum von Heliopolis die Hauptgottheit des betreffenden Tempels stellte. So griff die Verquickung der lokalen Gottheiten mit dem Sonnengotte mehr und mehr um sich. Wie Atum von Heliopolis mit Rê verschmolzen war, so wurde auch Ammon von Theben dem Rê gleichgesetzt als Ammon-Rê, ebenso Chnum von Elephantine als Chnum-Rê. Der Lokalgott von Hermopolis, Dhoute (Thoth), wurde als Mondgott aufgefaßt; die Göttin Hathor von Dendera als Himmelsgöttin. Der Glaube, daß der Gott Horus von Edfu ein Sonnengott sei, scheint bereits einer frühern Epoche anzugehören, jedenfalls wurde auch er jetzt mit dem Rê in Verbindung gesetzt, indem man annahm, daß Rê sich in seinem Alter in den Himmel zurückgezogen und die Herrschaft über die Welt seinem Sohne Horus übertragen habe. – Die Ausbreitung der Lehre von der Wesenseinheit der Götter mit dem Sonnengotte hätte nun allmählich zur Aufhebung des Polytheismus und zum Monotheismus führen müssen. Aber diese äußerste Konsequenz haben die Ägypter nicht gezogen, so oft sie auch von «dem einzigen Gotte» sprechen. Die einzelnen Priesterschaften, vor allem wohl die des thebanischen Ammon, die durch die polit. Machtstellung Thebens im mittlern und neuen Reiche zu ungeheurer Macht gelangt war, waren eifersüchtig bemüht, die Würde des von ihnen besonders verehrten Gottes hoch zu halten. Wenn sie ihn auch mit dem übermächtigen Sonnengotte identifizierten, so hüteten sie sich wohl, ihn mit irgend einem andern Gotte auf dieselbe Stufe zu stellen. Der einzige Versuch, der zur Herstellung eines reinen Monotheismus in Ä. gemacht worden ist, ist gerade an dem Widerstände der thebanischen Priesterschaft gescheitert (s. oben), und hat nur dazu geführt, die ägypt.

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 243.