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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Alexander II. Nikolajewitsch (Kaiser von Rußland)

dem Papste abbrach und auch 4. Dez. 1866 das Konkordat von 1847 aufhob. Nachmals, Juni 1869, verbot die russ. Regierung, als die einzige in Europa, den kath. Bischöfen ihres Reichs das von Pius IX. berufene Konzil zu besuchen. Im Winter 1867/68 wurde der der Nationalpartei besonders verhaßte Minister des Innern Walujew entlassen und durch den General Timaschew ersetzt.

Seit der Beendigung des poln.-litauischen Aufstandes konnte Rußland nach außen wieder entschiedener auftreten. Nach der Unterwerfung der Kaukasusgebiete wurden die Chanate Chokand und Buchara 1864-68 fast vollständig erobert. Im allgemeinen in den Fragen der auswärtigen Politik zurückhaltend, suchte A. während des Dänisch-Deutschen Krieges zu vermitteln; ebenso beschränkte er sich bei den Vorgängen während der J. 1866-68 (bezüglich Rumänien, Montenegro, Serbien, Candia) auf diplomat. Intercessionen und auf die Teilnahme an den Konferenzen. Auch während des Krieges zwischen Preußen und Österreich 1866 verharrte A. in einer neutralen, aber entschieden preußenfreundlichen Haltung. Das freundschaftliche Verhältnis zu Preußen zeigte sich gelegentlich des gleichzeitigen Besuchs, den A. und König Wilhelm I. zur Zeit der Pariser Weltausstellung Juni 1867 dem Kaiser Napoleon III. abstatteten. In Paris wurde der Zar durch Demonstrationen zu Gunsten Polens beleidigt, und ein poln. Flüchtling, Anton Berezowski, machte 6. Juni einen Mordversuch auf ihn. Nach seiner Rückkehr besuchte A. die Ostseeprovinzen und sprach in Riga 27. Juni die Mahnung aus: "Man solle nicht vergessen, daß diese Gouvernements einen unzertrennbaren Teil der großen russ. Familie bildeten". Gleichzeitig wurden dort Maßregeln zur Durchführung der russ. Amtssprache getroffen. Während des Krieges zwischen Frankreich und Deutschland 1870 bethätigte A. seine schon früher vielfach gezeigten Sympathien für Deutschland durch Ordensverleihungen an die deutschen Heerführer und durch Ernennung des Kronprinzen und des Prinzen Friedrich Karl von Preußen zu russ. Feldmarschällen, obgleich die öffentliche Meinung Rußlands entschieden zu Frankreich neigte.

Noch vor Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges wurde eine radikale Umgestaltung der russ. Militäreinrichtungen, insbesondere die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Angriff genommen und bis zum Sommer 1874 der Hauptsache nach durchgeführt. In der europ. Politik Rußlands trat seit 1872 eine wesentliche Veränderung ein: durch Vermittelung des Berliner Kabinetts trat Rußland zu der Österreich-Ungarischen Monarchie in ein verändertes Verhältnis, dem zunächst durch die Berliner Dreikaiser-Konferenz vom Sept. 1872 Ausdruck gegeben wurde. Nachdem Kaiser Wilhelm im Mai 1873 in Petersburg eine glänzende Aufnahme gefunden, besuchte der Zar im Juni desselben Jahres Wien, um im Jan. 1874 den Gegenbesuch Kaiser Franz Josephs zu empfangen. Um die Besorgnisse Englands vor russ. Absichten auf Afghanistan zu beschwichtigen, sandte A. im Febr. 1873 den Grafen Schuwalow nach London, dem es auch gelang, die Verlobung des Herzogs von Edinburgh mit der Großfürstin Marie, der einzigen Tochter A.s, zu vermitteln, und im Mai machte A. in England einen Besuch. Durch den wachsenden Einfluß der panslawistischen Partei im Beamtentum und in der Armee sah sich der Kaiser genötigt, in die orient. Verhältnisse mit bewaffneter Hand einzugreifen. Zwar mahnte A. die sich gegen die Pforte erhebenden Fürsten von Serbien und Montenegro zum Frieden, suchte auch bei einer Begegnung mit Kaiser Franz Joseph auf Schloß Reichstadt in Böhmen (8. Juli 1876) Österreich über die Absichten Rußlands zu beruhigen, doch wurde die Unterstützung der das Osmanische Reich bekriegenden Staaten durch russ. Geld und russ. Freiwillige zugelassen. Dabei sprach der Kaiser sein Bedauern über die bedrängte Lage der Christen in der Türkei aus und gab zu verstehen, daß er gesonnen sei, das Schicksal der Glaubensgenossen endgültig zu bessern. Die drohende Haltung des engl. Ministeriums veranlaßte A. 10. Nov. 1876 zu einer sehr kriegerischen Ansprache an den Adel zu Moskau. Unmittelbar darauf erfolgte die Mobilisierung von sechs Armeekorps.

Das Scheitern der Konferenz zu Konstantinopel ergab für Rußland den Kriegsfall, und im April 1877 ging A. nach Bessarabien, von da mit den vorrückenden Truppen durch Rumänien nach Bulgarien, wo er während der bedrängten Lage der russ. Armee im Juli bis September sein Hauptquartier zu Gorni-Studen hatte. Erst nach der 10. Dez. 1877 erfolgten Übergabe von Plevna brach der Kaiser nach Petersburg auf, wo er 22. Dez. eintraf. Die während des Krieges durch die patriotische Begeisterung zurückgehaltene nihilistische Bewegung trat jetzt wieder stärker hervor und schreckte zuletzt selbst vor Mordanschlägen gegen den Kaiser nicht zurück; so wurde A. 14. (2.) April 1879 vor dem Winterpalais zu Petersburg durch Solowjew angefallen, der aus nächster Nähe mehrere Revolverschüsse auf ihn abfeuerte, ohne jedoch zu treffen. Nunmehr wurden strengste Maßregeln gegen den Nihilismus ergriffen. Am 3. Sept. erfolgte in der russ. Grenzstadt Alexandrowo eine Zusammenkunft A.s mit dem Deutschen Kaiser, um die infolge der seit Sommer 1879 eingeschlagenen Politik des Deutschen Reichs eingetretene Erkaltung der Beziehungen beider Höfe zu heben. Noch zweimal unternahm die nihilistische Verschwörung ein Attentat auf den Kaiser, zunächst 1. Dez. (19. Nov.) 1879 während der Reise des Zaren von Livadia nach Moskau durch Sprengung des unterminierten Schienenwegs, sodann durch eine 17. (5.) Febr. 1880 im Winterpalais verursachte Explosion. Zwar war in beiden Fällen das eigentliche Ziel dieser Verbrechen nicht erreicht, aber es gelang nicht, die Urheber dieser Attentate zu entdecken. Unter solchen Verhältnissen feierte der Kaiser 2. März (18. Febr.) 1880 sein 25jähriges Regierungsjubiläum. Tief erschüttert, hatte er bereits 24. (12.) Febr. einen großen Teil seiner Machtvollkommenheiten einer Exekutivbehörde übertragen, an deren Spitze Loris-Melikow mit fast diktatorischer Gewalt gestellt wurde, um die Ordnung des Staates wiederherzustellen. Kurz nach dem Tode der Kaiserin vermählte sich A. 31. (19.) Juli 1880 mit einer Fürstin Dolgorukij (s. d.), die von ihm bereits mehrere Kinder hatte und nach der Vermählung den Titel Fürstin Jurjewskaja annahm. Nachdem die nihilistischen Agitationen längere Zeit geruht hatten und besonders durch die Maßregeln Loris-Melikows fast unterdrückt zu sein schienen, wurde der Zar zu Petersburg 13. (1.) März 1881 das Opfer eines Attentats, welches bei seiner Heimfahrt von einer Parade mittels Explosionsbomben ausgeführt wurde. Die Vorbereitung umfassender innerer Reformen und die Verfassungspläne, die A. in der letzten Zeit