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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Arbeitslosigkeitsversicherung

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Arbeitslosigkeitsversicherung

Die Hauptformen des A. sind: 1) Naturallohn. Mit Entwicklung der Geldwirtschaft ist der Naturallohn mehr und mehr verdrängt, er kommt in der heutigen Volkswirtschaft nur noch ausnahmsweise da vor, wo die Natur des Arbeitsverhältnisses diese Lohnform besonders begünstigt (bei landwirtschaftlichen Arbeitern u. s. w.); 2) Geldlohn, d. h. Zeit- und Stück(Accord-)lohn. Bei dem letztern liegt es allerdings in der Hand des Arbeiters, sich durch erhöhte Anstrengung und Geschicklichkeit ein höheres Einkommen zu verschaffen; aber der Durchschnittslohn, welchen der Unternehmer zahlt, wird doch, auf Zeit berechnet, nicht höher sein als bei dem Zeitlohn. In der Hausindustrie wird der Stücklohn durch die Konkurrenz oft außerordentlich tief herabgedrückt, so daß der Arbeiter selbst durch 14- bis 15stündige Arbeit kaum das Notwendigste erwerben kann. Die Arbeiterverbände sind daher im allgemeinen Gegner des Stücklohns; auch die socialistischen Parteien haben sich meist gegen diese Lohnform ausgesprochen. So hat noch im Aug. 1891 der Socialistenkongreß in Brüssel einstimmig eine Resolution gegen die Stück- und Accordarbeit angenommen. Ebenso wird die Afterunternehmung (frz. marchandage) verworfen, durch welche einzelne besonders befähigte Arbeiter sich oft emporgebracht haben. Dagegen wird seitens der Arbeiterverbände nichts eingewendet gegen den Gruppenaccord, bei welchem nicht ein Arbeiter andern gegenüber als Unternehmer auftritt, sondern eine Gruppe, ein Werk gemeinschaftlich von dem Arbeitgeber für einen Accordpreis übernimmt. Da wo die Arbeiter lediglich Zeitlohn erhalten, empfiehlt sich, um den Arbeitsfleiß zu steigern oder um eine sorgfältige Behandlung der Werkzeuge, sparsamern Verbrauch von Rohmaterial zu bewirken, die Bewilligung von Prämien. Auch die Beteiligung der Arbeiter am Unternehmergewinn hat sich in einigen Unternehmungen bewährt. (S. Gewinnbeteiligung und Bonus.)

Die thatsächlich gezahlten Löhne weisen große Verschiedenheiten auf, nicht nur zwischen den verschiedenen Ländern, sondern auch innerhalb ein und desselben Landes und Erwerbszweiges. Da es an genügend zuverlässigen lohnstatist. Erhebungen fehlt, kann keine internationale Lohnstatistik gegeben werden. Genauere Angaben liegen aber für Deutschland vor über die Löhne von sog. Tagelöhnern, also über die niedrigsten Löhne. Nach den Schmitzschen Übersichten beträgt der durchschnittliche Tagelohn für weibliche Personen fast zwei Drittel des durchschnittlichen Tagelohns für männliche Personen. Der höchste Satz für erwachsene männliche Arbeiter beziffert sich in Deutschland auf 300 Pf. in Bremerhaven und Lehe-Geestemünde, und auf 270 Pf. im Stadtkreis Kiel, der niedrigste Satz im Reg.-Bez. Posen, Kreis Schildberg, 75 Pf., und im Reg.-Bez. Breslau, Kreis Militsch, Kreis Polnisch-Wartenberg und Kreis Münsterberg 80 Pf., ebenso im Reg.-Bez. Oppeln, Kreis Rosenberg und Lublinitz. Die Ursachen dieser großen Differenzen in den Tagelöhnen sind nur zum Teil in der Verschiedenheit der Preise der unentbehrlichsten Lebensmittel zu suchen. Andere Umstände beeinflussen den Tagelohn in höherm Maße, so das Verhältnis von Angebot und Nachfrage von und nach Arbeitskräften, die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens, die Nachbarschaft einer viele Arbeitskräfte erfordernden Industrie, die Entwicklung der Verkehrsmittel u. s. w.

Litteratur. Ricardo, Principles of political economy and taxation, Kap. 5 (Lond. 1817 u. ö.); K. Marx, Das Kapital, Bd. 1 (3. Aufl., Hamb. 1883); Lassalle, Offenes Antwortschreiben an das Centralkomitee u. s. w. (Zür. 1863); ders., Arbeiterprogramm (1863); ders., Arbeiterlesebuch (Frankf. a. M. 1863); Alb. Lange, Die Arbeiterfrage (4. Aufl., Winterth. 1879); Knies, Geld und Kredit (2 Abteil., Berl. ebd. 1875); Knapp, Zur Prüfung der Untersuchungen Thünens (1865); L. Brentano, über Thünens naturgemäßen Lohn und Zinsfuß im isolierten Staate (Gött. 1867); ders., Die Lehre von den Lohnsteigerungen (in den "Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik", Bd. 16, Jena 1871); ders., Über das Verhältnis von A. und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung (Lpz. 1875); Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag (Stuttg. 1886); Röster, Zur Kritik der Lehre vom A. (Erlangen 1861); von Wieser, Der natürliche Wert (Wien 1889); V. Böhmert, Gewinnbeteiligung (2 Bde., Lpz. 1878); J. Schmitz, Übersicht der für die sämtlichen deutschen Bundesstaaten in Gemäßheit des §. 8 des Reichsgesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 festgestellten ortsüblichen Tagelöhne gewöhnlicher Tagearbeiter (2. Aufl., Neuwied 1888).

Arbeitslosigkeitsversicherung bezweckt, dem Arbeiter für den Fall, daß er, obwohl arbeitsfähig, entweder infolge mangelnder Nachfrage oder von Arbeitseinstellung oder Aussperrung keine Arbeit findet, die Mittel für seinen und seiner Familie Unterhalt zu sichern.

Lange hat man geglaubt, daß die Versicherung gegen Krankheit das erste und dringendste Bedürfnis sei. Jedoch derselbe Gedankengang, der zur Unentbehrlichkeit der Unterstützung in Krankheitsfällen führte, bringt auch auf die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Wenn man, ihre Wichtigkeit anerkennend, doch von der Verwirklichung einer A. seither absah, so geschah es, weil man vor der Größe der Aufgabe zurückschreckte. Über die mathem. Grundlage, die zum Begriff der modernen Versicherung gehört, ins klare zu kommen, bietet große Schwierigkeit. Man müßte, die Zahl der gewerblichen Arbeiter und der jährlich für längere oder kürzere Zeit arbeitslos werdenden Individuen kennen und diese Angaben für die verschiedenen Industriezweige getrennt haben, sowie wissen, wie lange im Durchschnitt die Beschäftigungslosigkeit dauert.

Dann könnte man die Gesamtsumme des Bedarfs ermitteln und danach die von den Arbeitern zu entrichtende Prämie berechnen. Wie bald sich diese Grundlagen werden beschaffen lassen, ist nicht abzusehen. Ein Anfang wird dazu gemacht, indem bei der deutschen Volkszählung des J. 1895 zum erstenmal auch die Arbeitslosen ermittelt werden sollen. Zur Zeit besteht eine A. nur auf genossenschaftlicher Grundlage in den englischen und deutschen Gewerkvereinen, in den Gewerkschaften, und in vieler Beziehung kann auch das Geschenk, wie es in den Innungen den wandernden Gesellen gereicht wird, dazu gerechnet werden. Eine städtische Anstalt zur Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist 1893 in Bern gegründet worden, die zunächst ganz gut funktioniert. Mit derselben Absicht trägt man sich in Basel. - Vgl. Brentano, Der Arbeiterversicherungszwang (Berl. 1881); Zacher, Arbeiterbewegung und Socialreform in Deutschland (ebd. 1893); Adler, über die Aufgaben des Staates angesichts der Arbeitslosig-[folgende Seite]