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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Armenwesen

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Armenwesen

Pfarreien größere Verbände (unious) zu bilden. (S. auch Armengesetzgebung.)

Armenwesen. Der Begriff der Armut umfaßt nur diejenigen Personen, deren wirtschaftlicher Besitz zu ihrem Lebensunterhalte nicht ausreicht. Es gehören dahin einerseits die Erwerbsunfähigen, andererseits die Erwerbsfähigen, die aus zeitlichen oder persönlichen Gründen nicht erwerben können oder wollen. Völlig verschieden davon ist das "Proletariat" (s. Proletarier). Nach den Ursachen, welche bei den einzelnen Personen die Armut hervorrufen, spricht man von unverschuldeter und verschuldeter Armut. Unmündige, die kein Vermögen besitzen und ihren Ernährer verloren haben, Personen, die ohne ihr Zuthun durch Krankheit oder Unglücksfälle ihr Eigentum eingebüßt haben und arbeitsunfähig geworden sind, Arbeiter, denen ungünstige Verhältnisse im Lande die Erwerbsquellen verschließen, sind unverschuldet arm. Nicht überall ist die Armut gleich verbreitet. Wenig Arme giebt es z. B. bei wilden Volksstämmen in warmen Klimaten, in Ländern, die sich vorzugsweise mit Ackerbau und Viehzucht beschäftigen, und wo die meisten Einwohner Grundbesitzer sind. Viele Arme dagegen finden sich überall da, wo die Bevölkerung stark angewachsen ist, die Industrie fast alle Hände in Anspruch nimmt, der Wettbewerb eine große Rolle spielt, der Grundbesitz in den Händen weniger liegt u. s. w. Gerade die großen und reichen Städte beherbergen besonders auch deshalb viele Arme, weil dort am freigebigsten und oft ganz planlos Almosen gespendet werden. Stellt sich in einem Lande ein Zustand ein, in dem viele Menschen sich außer stande sehen, sich den notwendigen Lebensunterhalt zu erwerben, so nennt man diesen Zustand Massenarmut, Pauperismus (s. d.). Auf die Armut wirken die Zeitereignisse oft mächtig ein. Bedeutende Stockungen in wichtigen Erwerbszweigen, schlechte Ernten, starke Erhöhung der Preise vieler Güter, Revolutionen und Kriege können in wenigen Jahren die Armut außerordentlich steigern.

Die gesamte Thätigkeit zur Beseitigung der Armut faßt man unter der Bezeichnung A. zusammen. Zu diesem gehören alle diejenigen Maßregeln, welche das Entstehen der Armut verhindern sollen, die vorbeugenden Mittel; ferner diejenigen, welche die Armen und namentlich solche, die ihre Armut verschuldet haben, zwingen sollen, sich mit eigenen Kräften ihre Lebensbedürfnisse zu verschaffen, die Maßregeln der Armenpolizei; drittens die Unterstützung der zeitig und dauernd erwerbsunfähigen Armen, die Armenpflege, sei sie nun öffentliche oder private Armenpflege, und endlich die Beseitigung der vorhandenen Armennot durch allgemeine Einrichtungen sehr verschiedener Art, wie z. B. Arbeitsanstalten, Arbeitsvermittlungsstellen, Verpflegungsstationen, Arbeiterkolonien, Auswanderung u. s. w.

Was die Mittel zur Verhütung der Armut betrifft, so gehören zu ihnen alle diejenigen, welche den Volkswohlstand zu heben geeignet sind; alle Maßregeln, die die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung der einzelnen Staatsbürger fördern, Kenntnisse und Geschicklichkeiten unter den arbeitenden Klassen, aus denen zumeist die Armen hervorgehen, verbreiten, den Zutritt zu einträglichen Beschäftigungen erleichtern, die Produktion kräftigen, die bessere Verteilung der Güter ermöglichen und auf die Ausdehnung des Verkehrs hinwirken. Außer diesen entferntern Mitteln zur Verhütung der Armut giebt es aber auch andere näherliegende, z. B. die Sparkassen (s. d.), das Gesamtgebiet der Arbeiterversicherung (s. d.), die Hilfs- und Darlehnskassen und -bureaus (s. d.), die Anstalten, die den Ärmern den billigen Ankauf der Lebensbedürfnisse ermöglichen u. s. w. Alle diese Mittel setzen aber freilich, wenn sie wirksam sein sollen, voraus, daß die Personen, denen sie geboten werden, den festen Willen haben, sich vor der Armut zu schützen. Mit den Personen, die diesen Willen nicht haben, beschäftigt sich die Armenpolizei. Ihr Zweck ist, diejenigen, welche durch eigene Verschuldung arm sind und die Verschuldung fortsetzen, durch Verbote und Zwangsmaßregein zur Erwerbung des eigenen Unterhalts und des ihrer nächsten Angehörigen anzuhalten. In erster Linie hat es die Armenpolizei zu thun mit Bettlern, arbeitsscheuen Landstreichern, sittlich verwahrlosten Kindern u. s. w. In der Regel ist dabei der Armenpolizei das Recht zugesprochen, die bestraften Bettler und Landstreicher nach Abbüßung ihrer Strafe auf Monate und Jahre in Besserungsanstalten und Arbeitshäuser (s. d.) zu verweisen und sie dort zu regelmäßiger Arbeit anzuhalten und an dieselbe zu gewöhnen. Außerdem darf sie dieselben in ihre Heimatsgemeinde zurückschicken und die Entfernung ans derselben untersagen. Ebenso ist ihr die Befugnis erteilt, sittlich verwahrloste Kinder in Rettungshäusern (s. d.) unterzubringen.

Vorzugsweise beschäftigt sich mit den Armen die öffentliche Armenpflege. In der Regel liegt dieselbe in der Hand der Gemeinde, der die Armen angehören, seltener in der Hand von Vereinen und Genossenschaften, denen eine gesetzliche Verpflichtung obliegt. Fast allgemein ist die Verpflichtung des Staates und der Gemeinde zur Gewährung der Armenunterstützung anerkannt. Die öffentliche Armenpflege hat sich in der Regel nur mit den ganz oder teilweise erwerbsunfähigen Armen zu beschäftigen. Zu den erwerbsunfähigen Armen gehören in erster Linie arme Kinder, die elternlos (Waisen), oder deren Eltern für sie ausreichend zu sorgen nicht im stande sind oder diese Pflicht versäumen. Für den Unterhalt solcher Kinder hat die öffentliche Armenpflege ganz und gar oder nur teilweise einzutreten. Das erstere ist der Fall bei den armen Waisen, mit denen sich die Waisenpflege, als Zweig der Armenpflege, beschäftigt, indem sie dieselben in eigenen Anstalten (Waisenhäusern, s. d.) unterbringt und erzieht oder geeigneten Familien als sog. Kostkinder gegen Entschädigung zur Unterhaltung und Beköstigung anvertraut. Ähnlich wird mit Findelkindern verfahren, für die in einigen Staaten (nicht in Deutschland) eigene Anstalten, die sog. Findelhäuser (s. d.), bestehen. Ebenfalls erwerbsunfähig sind auch Personen in hohem Alter und Geisteskranke, für die weder Angehörige, noch, beim Fehlen einer Versicherung, irgendwelche Versicherungsanstalten zu sorgen haben. Erstere werden in Armenhäuser, Versorgungsanstalten, Hospitäler, u. s. w. aufgenommen oder durch Geld unterstützt; letztere in Irrenhäusern untergebracht. Für die armen, hilflosen Kranken sind Krankenhäuser fast überall vorhanden; bringt man sie in Familien unter, so sorgt die Armenpflege für Wohnung, Unterhalt, Pflege, ärztliche Behandlung und Arznei. Zu den teilweise Erwerbsunfähigen dagegen gehören diejenigen Personen, welche durch Körperschwäche, Gebrechen, Kränklichkeit, herannahendes Alter u. s. w.