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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Beethoven

gen, nach allen Seiten vordringenden, in Form und Inhalt gleichmäßig fortschreitenden, durch unerschöpflichen Reichtum wahrhaft neuer Erfindungen immer wieder überraschenden Entwicklung seiner Schöpferkraft. In einem planmäßigen Entwicklungsgange bemächtigte sich B. zuerst der verschiedenen Formen der Kammermusik von der Klaviersonate, die er zu ihrer vollen künstlerischen Bedeutung ausbildete, bis zum Quartett (deren er 16 geschrieben hat), um das auf diesem Gebiete Gewonnene auf die Orchestermusik zu übertragen, und bildete die gesamte Instrumentalmusik in einem neuen großen Stile aus. Mit sicherer Hand ergriff er alle Mittel des musikalischen Ausdrucks, welche Mozart und Haydn überliefert hatten, und erweiterte und bereicherte sie, indem er ihren Gehalt vertiefte und die architektonischen Formen ausbaute. Das innere Leben und die äußere Erscheinung von Sinfonie und Sonate, die ganze Instrumentalmusik trat so durch B. auf eine neue, höhere Stufe.

Mit der dritten Sinfonie, der "Eroica" (1804), ist diese Richtung vollständig entschieden, die von da an in jeder neuen Komposition eigentümlich sich ausspricht. Namentlich sind es die Sinfonien in B-dur (1806), in C-moll, die Pastorales^[richtig: Pastorale] (1807-8) und dann die in A-dur und F-dur (1812), welche wie Marksteine den Gang des Meisters bezeichnen. Ihnen reihen sich die zwei großen Leonoren-Ouverturen in C-dur (1805 und 1806; beide das Op. 72 bildend), die drei russ. Streichquartette (1806, Graf Rasumowski gewidmet) und die großen Konzerte für Klavier und Violine an. Auch auf dem Gebiete der Gesangsmusik blieb B. nicht unthätig. Neben Liedern und kleinern Stücken schrieb er 1803 die Kantate "Christus am Ölberg", 1805 folgte die Oper "Fidelio", welche damals und in abgekürzter Form 1806 wenig Erfolg hatte, aber 1814, teilweise umgearbeitet, Beifall und von da an einen dauernden Platz auf allen deutschen Bühnen errang. Es war die erste Leistung seit Mozarts "Zauberflöte", die eine weitere Entwicklung ankündigte. Doch kam B. trotz wiederholter Anläufe nicht wieder dazu, eine Oper zu schreiben. Nur noch zwei Festspiele, die er zur Eröffnung des Theaters in Pest 1812 komponierte: "König Stephan" und "Die Ruinen von Athen", ferner das Ballett "Die Geschöpfe des Prometheus" (1801), die Musik zu Goethes "Egmont" (1810) und die Ouverture zu Collins "Coriolan" (1807) bilden die weitern dramat. Arbeiten B.s.

Als 1809 B. als Kapellmeister des Königs von Westfalen nach Cassel berufen wurde, traten der Erzherzog Rudolf (B.s Schüler und Freund), Fürst Lobkowitz und Graf Kinsky zusammen und sicherten ihm ein Jahrgeld von 4000 Fl. gegen die einzige Bedingung, Österreich nicht zu verlassen. Zwar schmälerten der Staatsbankrott 1811 und der bald darauf eingetretene Konkurs des Fürsten Lobkowitz wie der Tod des Grafen Kinsky dieses Einkommen, doch sicherte es dem in der Vollkraft des Schaffens stehenden Künstler eine unabhängige Stellung. Das Kongreßjahr 1814 fand ihn auf der Höhe seines Ruhms: großartige Aufführungen seiner siebenten und achten Sinfonie, der Sinfonie "Die Schlacht bei Vittoria" und einer Gelegenheitskantate "Der glorreiche Augenblick", die Wiederaufnahme des "Fidelio" hatten ihn zu einer Berühmtheit Wiens gemacht. Allein B. war nicht im stande, eine solche Anerkennung vollkommen zu empfinden, da sich eine schon früh aufgetretene Harthörigkeit seit 1802 zu hochgradiger Taubheit gesteigert hatte. Das trotz aller Heilversuche immer wachsende Übel verdüsterte seinen von Kindheit an zur Melancholie neigenden Sinn, machte ihn mißtrauisch und ließ ihn vereinsamen. Eine neue Quelle von Widerwärtigkeiten und Kümmernissen entstand 1815, als er die Erziehung des von seinem verstorbenen Bruder Karl hinterlassenen Sohnes übernahm, seine äußern Verhältnisse verschlimmerten sich, selbst seine Schaffenskraft stockte. Die Ernennung des Erzherzogs Rudolf zum Erzbischof von Olmütz, die 1818 bekannt wurde, erregte in B. den Gedanken, zu dessen Installation eine Messe zu schreiben; die mit der hingebendsten Begeisterung ausgeführte Komposition nahm ihn bis 1822 in Anspruch. Während eine früher für den Fürsten Esterházy komponierte Messe (1808) im wesentlichen den Haydn-Mozartschen Charakter festhält, sind in diesem neuen Werke, das nach Ausdehnung, Mitteln und Intentionen die gewöhnlichen Dimensionen überschreitet, die religiösen Empfindungen mit leidenschaftlicher Inbrunst ausgesprochen. Nach Vollendung dieser "Missa Solemnis" machte sich B. mit gleichem Eifer an die Ausführung eines lange gehegten Plans, einer Sinfonie, deren letzter Satz mit Chören über Schillers Lied an die Freude schließt. Anfang 1824 war auch dieses Werk, das ebenfalls durch Ausdehnung und technische Schwierigkeiten, namentlich in den Gesangspartien, ungewohnte Ansprüche machte, vollendet. Diesem folgten, zum Teil unter schweren körperlichen Leiden geschrieben, fünf große Quartette, die auch heute noch mehr ein Gegenstand des Studiums als des allgemeinen Genusses sind. B. starb nach längern Leiden 26. März 1827 an Wassersucht. Denkmäler von B. befinden sich in Bonn (Erzstatue von Hähnel, errichtet 1845) und Wien (von Zumbusch, 1880). Die sämtlichen Werke B.s erschienen bei Breitkopf & Härtel (24 Serien, Lpz. 1862-64). Ein chronol. Verzeichnis der Werke veröffentlichte Thayer (Berl. 1865), ein thematisches mit histor. Nachweisen über die Entstehung lieferte Nottebohm (Lpz. 1868; 2. Aufl. des Breitkopf & Härtelschen Verzeichnisses). Ein Beethoven-Museum befindet sich in B.s Geburtshaus zu Bonn.

Litteratur. Wegeler und Ries, Biographische Notizen über B. (Kobl. 1838); Schindler, Biographie von L. van B. (Münst. 1840; 4. Aufl. 1881); von Lenz, B., eine Kunststudie (5 Tle., Kassel und Hamb. 1855-60); Marx, L. van B. Leben und Schaffen (Berl. 1859; 4. Aufl. 1884); Ulibischeff, B., ses critiques et ses glossateurs (Lpz. 1857; deutsch von Bischoff, ebd. 1859); Nohl, B.s Leben (3 Bde., Wien u. Lpz. 1864-77); ders., B., nach den Schilderungen seiner Zeitgenossen (Stuttg. 1877); Nottebohm, Ein Skizzenbuch von B. (Lpz. 1865); ders., Beethoveniana (ebd. 1872); ders., B.s Studien, Bd. 1 (ebd. 1873); ders., Zweite Beethoveniana (ebd. 1886); Hiller, L. van B. (ebd. 1871); Thayer, Ludwig van B.s Leben (deutsch von H. Deiters, 3 Bde., Berl. 1866-79); ders., Ein kritischer Beitrag zur Beethoven-Litteratur (ebd. 1877); von Breuning, Aus dem Schwarzspanierhause. Erinnerungen an B. (Wien 1874); Jahn, L. van B. (2. Aufl., Elbing 1875); Wilder, B., sa vie et son œuvre d’après les documents authentiques et les travaux les plus récents (Par. 1883); Frimmel, B. und Goethe (Wien 1883); ders., Neue Beethoveniana (ebd. 1888; Neuausg. 1890); von Wasielewski, L. van B. (2 Bde., Berl. 1887); Kalischer, Die "Unsterbliche Geliebte" B.s (Dresd. 1891).